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Die Eisenhütte in Augustfehn

28. Januar 2025, Augustfehn. Fahrt durch Ostfriesland nach Osten. Flaches Land. Ganz flaches Land. Grünland, ab und an ein Wäldchen. Kühe, Schafe, Pferde – das Reich von Carmen und Tamme Hanken, den berühmten Tier-Chiropraktikern, dem „Knochenbrecher“ aus Filsum. Sowie Ottifanten – und dessen Erfinders Otto Waalkes, dem Komiker aus Emden. Die Landschaft nennt man ‚Marsch‘. Gibt es eine Bodenerhebung – dann ist es gerne ein Deich. Kleine Straßenbrücken sehen aus, als wären sie von van Gogh gemalt, sie führen über die Entwässerungs- und Torfkanäle, mit deren Bau das lange unwirtliche Binnenland – norddeutsche Moorlandschaften eben – trockengelegt wurden. Dazu gehörte auch die Gründung vieler Ortschaften während des 30jährigen Krieges, der sogenannten „Fehndörfer“, die als Kolonien gedacht wurden, den Torfabbau zum Brennen und Düngen fördern und der Lebensmittelerzeugung dienen sollten. Und auch für Sonstiges. Eines dieser Dörfer im Osten dieser Landschaft – genaugenommen auf der östlichen Grenze dieser Region und als erstes schon von der Verwaltung im Landkreis Ammerland liegend – ist die Gemeinde Augustfehn, allerdings erst im Jahr 1850 gegründet und mit dem Namen des Oldenburger Großherzogs Paul Friedrich August ausgestattet. Herausragend steht in ihm ein schöner Wasserturm. Er gehört zu „Sonstiges“: zur ‚Eisenhütte Augustfehn‘, einer ehemals großen Manufaktur mitten im Torfland.

Das Eisenhütten-Werk war der Plan zweier Männer aus Oldenburg – eines Herrn Schutze und eines Herrn Bley. Diese begründeten schon sechs Jahre nach Augustfehns Erscheinen auf den Landkarten die ‚Oldenburgische Eisenhütten-Gesellschaft zu Augustfehn‘ – Zweck: Errichtung einer Eisengießerei und eines Emaillierwerkes, darüberhinaus eines Puddelwerks sowie eines Walzwerks. Puddelwerk? Einfach beschrieben geht es in ihm darum, aus Roheisen mit dem Glühen und Schmieden über Steinkohle stabileres Schmiedeeisen herzustellen, ein Vorläufer des Stahls, der ja viel haltbarer und vor allem auch elastischer als Gusseisen ist. Und im Walzwerk stellt man dann Bleche daraus her. Beim Emaillieren wird es mit einer Glashaut überzogen und gegen Rost geschützt.

Richtig Aufschwung nahm die erfolgreiche Gründung mit dem Bau der Eisenbahnstrecke von Oldenburg nach Leer in den 1870er Jahren – die Eisenhütte erhielt einen eigenen Anschluss. Um das Jahr 1880 hatte sie bereits 300 Mitarbeiter, davon ein Teil als Saisonarbeiter aus den Torfbetrieben, viele jedoch zugewandert aus Westfalen und anderen Teilen des Deutschen Reiches. Typisch Gründerzeit – Aufschwung allerorten. Reichsgründung, Eisenbahn, Bankwesen haben es gemacht. Eisen und Stahl wurden allerorts gebraucht: als Träger im Bau, für Brücken, Schiffahrt und den Eiffelturm.

Im neuen Jahrhundert wird die Eisenhütte zweimal verkauft: an die Warsteiner Grubenwerke und später nach Schlesien. Die Eisenhütte spezialisiert sich auf Artikel zum Einsatz in Gaswerken. Im Jahr 1911 wird der heute noch stehende Wasserturm und das Kesselhaus gebaut.

Manufakturen-Blog: "Augustfehn i(m) O(ldenburgischen) - Eisenhütte" - Postkarte am Beginn des 20. Jahrhunderts (Repro: Wigmar Bressel)

„Augustfehn i(m) O(ldenburgischen) – Eisenhütte“ – Postkarte am Beginn des 20. Jahrhunderts mach dem Bau des Wasserturms (r.) im Jahr 1911

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise gerät auch die Eisenhütte in Schwierigkeiten – nach zwei Jahren Kurzarbeit ist Schluss, das Werk wird im Jahr 1932 stillgelegt.

Vier Jahre später nochmal ein Aufwallen: aus der Eisenhütte wird ein Depot der Werft der Kriegsmarine in Emden. Das trägt natürlich nur neun Jahre.

Die Hallen und Gebäude dienen nach Kriegsende verschiedenen Zwecken: als Lager, der Post – und das Kesselhaus einer Freikirche für acht Jahre als Gotteshaus.

Im Jahr 1967 zieht die Bundeswehr ein, die Eisenhütte bleibt Lager. Die Liegenschaft wird nach deren Auszug im Jahr 2003 vom Bundesvermögensamt an die Kommune verkauft, Kesselhaus und Wasserturm erwerben im Jahr 2010 das Unternehmer-Paar Anke und Dieter Börjes (Harley-Davidson-Händler und Reparateure), die daraus ein Restaurant und Ausstellungsräume für den Eisenhütte-Kultur-Verein machen. Ein Besuch – lohnenswert.

Manchmal bleibt von einer Manufaktur – eben immerhin ein Baudenkmal, als ‚Niedersächsisches Industriedenkmal‘ sogar an der Autobahn mit einem braunen Sehenswürdigkeit-Schild ausgewiesen.

Manufakturen-Blog: Das Kesselhaus der früheren Eisenhütte beherbergt jetzt ein Restaurant, Ausstellungsräume und eine Außenstelle des Standesamtes (Foto: Wigmar Bressel)

Das Kesselhaus der früheren Eisenhütte beherbergt jetzt ein Restaurant, Ausstellungsräume und eine Außenstelle des Standesamtes – Ausstellungs-Information zum ‚Manufakturen-Blog-PopArt-Projekt‘ im Jahr 2023

Manufakturen-Blog: Kesselhaus-Relikte im heutigen Restaurant (Foto: Wigmar Bressel)

Kesselhaus-Relikte im heutigen Restaurant

Fotos: Eisenhütte, Wigmar Bressel

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Das, was uns antreibt – Handlungsanleitung für den Eintritt in die Welt der Manufakteure

20. Januar 2025, Bremen. Wenn man eine der Casting-Shows wie „The Voice of Germany“ sieht, dann stellt man fest, wie positiv vor allem Menschen unser Land sehen, die unter schwierigsten Umständen nach Deutschland eingewandert sind. Sie stehen da auf den Bühnen, glühen für ihre Musik und erzählen, was sie an unserem Land so toll finden: Frieden, Sicherheit, Zuversicht, Verlässlichkeit, Toleranz und Qualität.

Wir alle kennen diese uns und unserem Land zugeschriebenen Eigenschaften. Für uns klingen sie manchmal hohl, weil wir immer wieder vergessen, dass sie auch bei uns erkämpft werden mussten. Erkämpft von Menschen, die mit Leidenschaft für ihre Ansichten angetreten sind. Deutsche und Leidenschaft – na ja, auch eine funktionierende Verwaltung erzählt letzten Endes von einer Leidenschaft, die man nicht als albern herabwürdigen muss. Denn jedes System, das funktioniert, funktioniert nur, weil es von einem schwer greifbaren Kitt, einer in ihm wirkenden Anziehungskraft zusammengehalten wird, die nicht mit Arbeitsanweisungen und Pflichtgefühl allein zu erklären sind. Pflicht – ja, woher sollte sie denn wohl kommen? Pflicht resultiert immer aus tieferen Überzeugungen, die im Geheimen in uns Menschen wirken. Überzeugungen, die – solange sie nicht durch äußere Einflüsse verloren gehen oder sich in Negative wandeln – uns viel stärker antreiben, als wir im täglichen Arbeitsleben bemerken.

„Jeder Mensch steht immer im Absoluten“, sagt der Berliner Philosoph Jochen Kirchhoff. Er meint damit: Wir haben alle nur unser eines Leben – wir müssen uns bewusst sein, dass wir uns besser jeden Tag für das engagieren, was uns wirklich antreibt. Und nicht unsere Zeit verdaddeln und denken: Dies oder das mache ich einmal, wenn ich dafür Zeit habe. Denn die Uhr läuft ständig, Tag für Tag, Stunde für Stunde.

Das Zitat meint natürlich auch: Wir können uns vor unserer Verantwortung nicht drücken. Letzten Endes vergeuden wir unsere Lebenszeit in jedem Moment, in dem wir Mitläufer sind in einem System, an das wir nicht wirklich glauben. Der Kant’sche Imperativ (falls Sie den Begriff nicht kennen, müssen Sie ihn unbedingt mal bei Google eingeben) gilt natürlich immer und überall. Und jeder, der Ihnen etwas anderes erzählt, will Sie für eine fremde Sache manipulieren.

Doch zurück zur Leidenschaft. Unbestritten bieten deutsche Künstler, Kunsthandwerker und Manufakturen erstklassige und leidenschaftlich entworfene und hergestellte Produkte, die niemals durch ein anonymes Fabrikprodukt übertroffen werden können. Niemals kann ein leidenschaftlich in Handarbeit gefertigtes Produkt durch ein seelenloses Industrieprodukt übertroffen werden. Es mag in eine Nische verdrängt werden; es kann sein, dass sich nur eine kleine Anzahl von Menschen das beste Produkt leisten kann – aber übertroffen werden kann es nicht. Perfekt ist perfekt. Da geht nicht mehr.

Ich habe mich gefragt, welche Motoren die Manufakturen antreiben, die in ihren Nischen so perfekte Produkte herstellen – gegen den Zeitgeist, wie es oft beschrieben und sogar beklagt wird. Wenn man einen Blick auf die Biografien der Unternehmer wirft, dann stellt man schnell fest, dass viele überzeugte Seiteneinsteiger sind: Andreas Müller vom Rasierpinsel-Hersteller Mühle – ein Theologe, Christian von Campe von der Hemdenmanufaktur Campe & Ohff – ein Bankkaufmann, Matthias Vickermann von der Maßschuhmanufaktur Vickermann und Stoya – ein Steuerfachgehilfe, der aus Frust über tägliches Zahlenwerk und die eigene Schuhgröße 54 eine Schusterlehre absolvierte. Rolf-Peter Beckmann von der Steppwarenmanufaktur Matschke & Boller ist ein ehemaliger Bankvorstand, Diana Funke, Leiterin der Textilmanufaktur Maximilian Frey, ist Diplom-Soziologin. Sie fasst selbstironisch zusammen: „Wir machen das, was wir nicht gelernt haben – dafür aber gut.“

Nun ist der wenig stringente Karriereweg an die Spitze einer Manufaktur natürlich vor allem in den Betrieben zu finden, die in den vergangenen Jahrzehnten neu gegründet wurden oder ihren Eigentümer gewechselt haben, bisweilen auch holpernd und polternd. Denn wo der Betrieb vererbt werden sollte, da haben meistens die Eltern ihre Kinder auf den Übergang vorbereitet und entsprechende Ausbildungen und Studiengänge absolvieren lassen.

Doch die Manufakturen-Branche bietet aufgrund übersichtlicher Kapitalisierung und Buchwerte große Möglichkeiten für Quereinsteiger.

Ute Czeschka, Diplom-Chemikerin und Gründerin des Handelsportals für Manufakturwaren Manufakturhaus.com in Meißen, ist auch so ein Beispiel. Die persönliche Faszination für Manufakturprodukte brachte sie über das Berater-Business zum eigenen Portal mit inzwischen angeschlossenem Ladengeschäft in der Meißener Altstadt, in die Jury zum „Manufaktur-Produkt des Jahres“ des Verbandes Deutsche Manufakturen e. V., weiter in den Beirat des Buchprojektes Deutscher Manufakturenführer des Verlags Deutsche Standards; sie selbst initiierte das Buch „Die feine sächsische Art – Manufakturen in Sachsen“ im Verlag der Sächsischen Zeitung.

Ute Czeschka sagt: „Eigentlich wollte ich nur sächsischen Manufakturen helfen, sich besser zu vermarkten. Aber da wusste ich teilweise gar nicht, wo ich anfangen sollte. Da waren viele noch bei Null.“ Ute Czeschka und ihr Manufakturhaus wurden im Juli 2014 für ihr Engagement zur Erhöhung der Bekanntheit und Wertschätzung deutscher Manufaktur-Produkte von der Bundesregierung geehrt – mit der Wahl zum „Ausgezeichneten Ort im Land der Ideen“.

Und – wie bereitet man sich nun auf den Eintritt in die Arbeitswelt der Manufakturen vor?

Zunächst einmal: Seien Sie selbst ein Individualist. Manufakturen brauchen Mitarbeiter, die von ihrem eigenen Tun überzeugt sind.

Hüten Sie sich vor allen Predigern des „Praktischen“. Das Manufaktur-Produkt ist zwar absolut praktisch – aber es geht bei diesem „praktisch“ nicht darum, aus arbeits- und preissparenden Gründen auf das eine oder andere wichtige Detail zu verzichten. Denn ist das Manufaktur-Produkt nicht perfekt, dann ist es echt überholt. Und viel zu teuer. Hier greift auch wieder Ihr Individualismus – Individualismus ist das, was alle Systeme der Prediger des Praktischen so stört.

Manufakturen-Block: Bei Vickermann & Stoya im Showroom in Baden-Baden

Bei Vickermann & Stoya im Showroom in Baden-Baden – das Leisten-Lager dekorativ genutzt…

Manufakturen-Blog: ... und wer Schuhe herstellt, putzt sie auch und sammelt alte Schuhcreme-Dosen

… und wer Schuhe herstellt, putzt sie auch und sammelt alte Schuhcreme-Dosen.

Überhaupt: Das Individuum wird zwar gerne lippenbekennerisch als Salz der Suppe bezeichnet – aber in Wirklichkeit als störendes Sandkorn im System angesehen. Und Bedeutung wollten Sie in Ihrem Leben doch auch haben, oder? Also, trauen Sie sich ruhig, ein Sandkorn zu sein. Sandkorn neben Sandkorn – schon hat man einen schönen Strand. Und wo die Grenzen eines Sandkorns sind, das erfahren Sie dann schon, keine Angst.

Eine einfache Übung, um ein Individuum zu werden, ist: Leisten Sie sich Ihren Spleen. Ein Spleen ist nicht per se etwas Nervtötendes für ihre Umgebung, sondern etwas, das Sie für sich praktizieren, auch wenn es ihre Umgebung nicht versteht und vielleicht sogar für unpraktisch hält. Zum Beispiel wie die Schleife, die der Manufaktur-Unternehmer Jan-Henrik Scheper-Stuke von der Berliner Krawattenmanufaktur Edsor Kronen immer trug (inzwischen ist das Unternehmen verkauft), obwohl er selbst nur Schlipse produzierte. Und tragen Sie eine Schleife selbst in der Disco – es kann ja auch eine Fliege sein – das ist dann der Spleen. Und Übung zugleich.

Eine weitere Übung ist: Arbeiten Sie an Ihrer inneren Haltung. Lassen Sie sich nicht mit dem „relativ besten“ abspeisen – verfolgen Sie Ihre Forderung, die Sie ja auch an sich selbst haben: nach dem „Besten“.

Dabei dürfen Sie das Teuerste nicht mit dem Besten verwechseln. Der Porsche 959 war unbestritten ein tolles Auto und mit 450 000 D-Mark auch ein sehr teures – aber keinesfalls das Beste für eine Familie, zumal bestehend aus zwei Eltern und drei Kindern. Und man braucht auch weder eine Uhr noch ein Kochmesser mit eingefassten Diamanten. Denn bei diesen Dingen handelt es sich nur um Luxus oder Dekadenz oder Überdruss – je nachdem, wo man selbst so steht.

Diese Haltung steigern Sie weiter: Leisten Sie sich selbst gegenüber einen Schwur, sich in den relevanten Fragen Ihres Lebens nicht mehr mit den B-Varianten abspeisen lassen zu wollen. Sie werden feststellen: Das wird kein Selbstgänger.

Wenn Sie das gut genug leben, dann werden Sie sich irgendwann plötzlich auf dem Rütli wiederfinden. Rütli – das ist diese Wiese in Schillers auch heute noch absolut lesenswerten „Wilhelm Tell“, auf der der berühmte Schwur gegeben wird: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“ Dieser Schwur wurde in seiner Zeit als nationales Erweckungs-Bekenntnis im Politischen gesehen. Ich habe diesen Schwur zuletzt von Peter Sodann auf dem Marktplatz in Halle an der Saale am 2. Oktober 1990 im Rahmen der Beitrittsfeier öffentlich rezitiert gehört. Er hat natürlich umgeben von einem Volksfest mit Veronika Fischer und Roland Kaiser nur mäßig gezündet, vielleicht haben auch zu wenige zugehört.

Last not least haben die Angehörigen von Völkern oder Gesellschaften – vom Individuum aus betrachtet – eben doch zu wenig gemein; aber dieser Schwur taugt natürlich super für die Gemeinde der Manufaktur-Affinen. Bezogen auf den Qualitätsanspruch findet sich doch immer wieder eine größere Gruppe zusammen, die ihn für sich formuliert hat.

Wie weit man sich mit Manufaktur-Produkten umgibt, ist auch eine Stilfrage. Wenn man mal feststellt, dass wir die Zeit der Weltkriege mit Chaos und Überlebenskampf trotz IS-Terrors und anderer Bedrohungen wahrscheinlich doch einstweilen hinter uns gelassen haben und in eine Zeit der Vielbevölkerung eingetreten sind, dann kann Individualismus zur Strategie werden. Große liberale Politiksysteme geben Raum – aber auch der muss gefüllt werden. Wo sich der Staat zurückgezogen hat, da wird vom Bürger erwartet, dass er das Vakuum ausfüllt und Verantwortung übernimmt. Deregulierung schafft Platz für Individualismus und das Individuum. Ganz egal, ob man das jetzt gut findet oder nicht – Fakt ist, dass derjenige, der sich besser vorbereitet und geübt hat, sich leichter zurechtfindet und leichter besteht. Das gilt genauso für die Arbeitswelt. Also: Praktizieren Sie unbedingt schon aus Übungsgründen Ihren Spleen. Seien Sie sich immer bewusst, dass Sie sowieso „im Absoluten“ stehen und Ihnen niemand die Verantwortung für Ihr Tun abnimmt. Dann sind Sie bei den Manufakturen irgendwie schon richtig.

Fotos: Martin Specht

Essay aus dem Jahr 2015 für die Zeitschrift ‚Objects No. 8‘ des Direktorenhaus – Museum für Kunst, Handwerk und Design

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Kein Bling Bling – von der Sehnsucht nach der deutschen Manufaktur

19. Januar 2025, Bremen. Letzten Endes ist der NSA-Abhör-Skandal doch zu etwas gut. Die Revolution blieb zwar aus – aber die Erschütterung über das Ausspähen der verbündeten deutschen Bundesregierung blieb. In jedem von uns ein bisschen. Der eine Großteil meiner Bekannten hat gesagt: Ich habe es schon immer gewusst. Der andere Großteil hat gesagt: Bei mir gibt es für die nichts zu holen. Getroffen hat es aber trotzdem jeden – ein Stück persönliche Sicherheit ist weg, wenn Sicherheitsprogramme uns weltweit heimlich hinterher spionieren. Man erinnert sich gerne und wehmütig an den angeblichen Trend „Cocooning“, das sich zu Hause Einspinnen, der vor zehn Jahren in Wohnwelten und Küchen eingetroffen war: Man lud wieder zu sich nach Hause ein, präsentierte sich ein Stück privater, als im Restaurant oder Club. Heute denken wir: Hätten wir das bloß noch ein bisschen öfter gemacht, statt uns so bei Facebook auszutoben. Und beim Blick auf das Smartphone wird uns klar, was dieses vom handgeschliffenen Kochmesser unterscheidet: Beide können etwas – das Smartphone super telefonieren und das Messer super schneiden; beide können auch etwas nicht – nämlich in den Geschirrspüler. Während das Smartphone nun aber heimlich weitermeldet, mit wem kommuniziert wurde, behält das Messer für sich, was es geschnitten hat.

Die Ausspäh-Affäre wird eine alte Sehnsucht der Menschen verstärken – die Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, auch der Dinge im persönlichen Umfeld. Das handgeschmiedete Messer und all die anderen wunderbaren Dinge aus den Manufakturen. Dinge, die nicht im Industrieland A teuer erdacht, im Schwellenland B günstig designt und dann im Schwellenland C unter menschenunwürdigen Verhältnissen billigst gefertigt wurden, und deren Dreck und Müll anschließend in den Entwicklungsländern D – Z nahezu umsonst verklappt wurden. Der Rasierpinsel aus dem Erzgebirge, der thüringische Osterhase aus der Marolin-Masse, das Porzellan aus Niedersachsen, die Rosshaar-Handtasche aus Obertshausen, unser Silber-Besteck aus Bremen – natürlich die Form „Spaten“, noch entworfen von unserem Firmengründer Gottfried Koch im Jahr 1829. Sehnsucht nach Versprechen, die gehalten werden. Nachhaltig. Nicht Luxus, nicht bling-bling. Denn es geht nicht um teuer, sondern es geht um gut. Teuer, Luxus – diese Worte umschleicht schon das Wort Verrat. Kein Mensch kann sagen, was an einem Stretch-T-Shirt mit einer großen Werbeaufschrift auf der Brust und gefertigt in Bangladesch teuer sein kann. Außer der Verkäufer, der aus 14 Euro Einkaufspreis im Mix mit einer hohen Ladenmiete in einer der weltweiten Metropolen, kombiniert mit dem virtuellen Attribut einer internationalen Marke 140 Euro aus dem Portmonee des Kunden hervorgezaubert bekommt. Dabei steht an der nächsten Ecke schon der bitterarme Wirtschaftsflüchtling, der das scheinbar gleiche Produkt zum Viertel des Preises anbietet und flüstert: „Das kommt aus derselben Fabrik, wie das Original…“

Aber neben ihm steht kein Kollege mit einer Kopie des Mühle-Rasierpinsels aus dem Erzgebirge, mit einem handgeschliffenen Messer aus Rosen-Damast wie aus der Manufaktur Gehring in Solingen oder von unserer Sterlingsilber-Gabel aus Bremen. Mag sein, dass er in der Lage wäre, in Indien einen Billig-Nachbau des echten Polos von Maximilian Frey aus Limbach-Oberfrohna in Sachsen zu beschaffen – doch der avisierte Kunde glaubt nicht an schadstoffreie Bio-Baumwolle für 15 Euro pro Shirt. Er will auch nicht, dass seine Freunde glauben, dass Polo-Shirt sei echt, sondern er will in jedem Fall den Haut-Juckreiz vermeiden. Wo es um Inhalt, Nachhaltigkeit und kleine Stückzahl aus der Manufaktur geht, tun sich Betrug und Verrat schwer. Wer billig kaufen muss, geht gleich zum Discounter – und hat auch kein Geld für das in Wirklichkeit doch recht teure Label-Fake. Insofern haben all die Hersteller, die ihre Produktion nach Asien „ausgelagert“ haben, um den Kunden auf dem Heimatmarkt einfach irgendetwas billiger zu liefern, selbst schuld daran, dass sie sich jetzt mit ihren Kopisten herumschlagen dürfen.

Ein gutes Beispiel dagegen ist Auerbach, die Berliner Krawatten-Manufaktur: Auch in den Kellern der Hackeschen Höfe werden keine Seidenraupen gehalten – aber die Krawatten entworfen und in Handarbeit zugeschnitten, gelegt, gefälzt und teilweise sogar noch Heimarbeit – eine Produktionsform aus den Wirtschaftswunderjahren des Arbeitskräftemangels – genäht. Und am Luxus-Point-of-Sale verkauft.

Die viel geringere Marge macht nicht immer Spaß, doch sie gibt vielerlei Arten von Bodenhaftung. Die große Mühe, die es macht, täglich wieder Hunderte von Kunden zu finden, sichert Arbeitsplätze – zum Beispiel eben in Berlin. Wer weiß, wie man in Deutschland produzieren und leben kann, der ist nicht so leicht ersetzbar, der ist nicht beliebig und überflüssig. Denn er kennt ja offensichtlich das Geheimnis, wie das geht, was wir alle wollen.

Als wir unseren Verband Deutsche Manufakturen e. V. im Sommer des Jahres 2010 gegründet haben, haben wir zuvor diskutiert, wie sehr der Begriff Luxus mit unserem Anliegen verknüpft ist. Luxus – ja was ist eigentlich Luxus? Umgangssprachlich ist es schon die eisgekühlte Dose Cola an einem heißen Sommertag. Vor dem inneren Auge ist es vielleicht der Diamant-Ring für 300 000 Euro des weltweit bekannten Marken-Juweliers. Vielleicht ist es auch die Entscheidung, wenn einem auf Ibiza langweilig ist, eben mal schnell die drei Stunden mit dem eigenen Privatjet nach Kairo zu fliegen, nur für das Abendessen. Na gut, das ist schon Dekadenz…

Uns wurde schnell klar, dass es nicht um die Frage ging, wie viel Luxus in einem Manufaktur-Produkt steckt. Für den einen ist es schon Luxus, wenn er ein 13-Euro-Gemüseputzmesser von Robert Herder aus Solingen benutzt, statt des asiatischen Ein-Euro-Messers von Tedi und Konsorten. Für den anderen beginnt Luxus erst bei maßgeschneiderten Hemden und Blusen von Campe & Ohff aus dem hessischen Lauterbach für 95 Euro oder für Maßanzüge von Puls aus Kirchgellersen ab 800 Euro, die sich auch unser damaliger Vize-Kanzler Philipp Rösler schon leistete.

Es war auch relativ klar, dass wir uns mit Mindestanforderungen bei den Mitarbeitern nach unten von fünf – in Abgrenzung zu den Kunsthandwerkern – und nach oben mit 200 statt 250 oder 300 willkürliche Grenzen auferlegten. Doch Grenzen sind auch hier nötig, denn wo es keine Mitarbeiter gibt und keine arbeitsteilige Produktion, da kann man nicht von Manufaktur sprechen.

Manufakturen-Blog: Eröffnung des Flagship-Stores der Krawattenmanufaktur Edsor Kronen in den Hackeschen Höfen in Berlin im Jahr 2011 mit dem Dresscode 'Black tie' - v. l. Hemdenmanufakteur Christian von Campe, Krawattenhersteller Jan-Hendrik Scheper-Stuke, Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler, Wigmar Bressel von Koch & Bergfeld (Foto: privat)

Eröffnung des Flagship-Stores der Krawattenmanufaktur Edsor Kronen in den Hackeschen Höfen in Berlin im Jahr 2011 mit dem Dresscode ‚Black tie‘ – v. l. Hemdenmanufakteur Christian von Campe, Krawattenhersteller Jan-Hendrik Scheper-Stuke, Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler, Wigmar Bressel von Koch & Bergfeld

Manufakturen-Blog: Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler als besonderer Gast bei Jan-Henrik Scheper-Stuke zur Eröffnung des Flagshipstores der Krawattenmanufktur Edsor Kronen in den Hackeschen Höfen in Berlin im Jahr 2011 (v. l., Foto: Wigmar Bressel)

Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler als besonderer Gast bei Jan-Henrik Scheper-Stuke

Und wer so viele Mitarbeiter beschäftigt, dass es auf die Handwerkskunst der vielen Einzelnen überhaupt nicht mehr ankommt – auch da macht es keinen Sinn, den Begriff Manufaktur zu verwenden, denn dann wäre er ja nur ein Synonym für Mittelstand.

Gar keine Diskussion gab es beim Produktions-Standort Deutschland. Wer in einen Verband hinein möchte, der Deutsche Manufakturen heißt, muss seine Sachen in Deutschland selbst machen. Und damit war uns allen auch klar, was uns wirklich bewegt. Nicht die Marke, sondern die Fertigung von Produkten. In Deutschland. Das Einhalten von Spielregeln, die unsere Gesellschaft aufgestellt hat. Das Fertigen von Produkten für die Kunden aus unserer Gesellschaft. Und damit war auch klar, dass es nicht um Luxus und Marke gehen konnte, sondern um Nachhaltigkeit und Verantwortung innerhalb dieser Gesellschaft. Es geht um das Einhalten von deutschen und europäischen Normen: Energiesparen, Schadstoffausstoß, Inklusion – unser Unternehmen Koch & Bergfeld beschäftigt seit mehr als 100 Jahren gehörlose Mitarbeiter, zu den gleichen Konditionen wie nichtbehinderte Mitarbeiter. Damit will ich gar nicht sagen, dass wir ein besonders guter Arbeitgeber seien; andere mögen es viel besser machen als wir. Aber wir machen es wenigstens. Es stand für uns nie zur Debatte, Kinder in der nordkoreanischen Sonderwirtschaftszone auszubeuten. Denn unsere Meinung ist: Wenn unsere Kunden die notwendigen Preise nicht bezahlen wollen, können Sie halt nicht mit deutschem Silberbesteck essen. Geht es um Luxus? Nein. Geht es um Nachhaltigkeit? Ja. Natürlich, diese Haltung muss man sich aber auch erst einmal leisten können oder wollen, ist schon klar.

Wenn Sie an die beste Ledertasche denken, die Sie sich vorstellen können – fällt Ihnen dann ein Importprodukt ein? Vielleicht noch das von Hermès. Aber kaum eines aus Indien oder China. Dabei könnte diese Tasche vielleicht von Simone Tholl aus Halle an der Saale oder von Lea Lou Kersting und Janina Kraus aus Düsseldorf kommen. Oder von Kappes & Kappes aus Bergen-Enkheim, von ArsGalea aus Burkhardtsdorf oder eben von Comtesse aus Obertshausen. Kennen Sie nicht? Googeln Sie sie mal – und seien Sie nicht zu enttäuscht über teilweise unspektakuläre Internetseiten. Die Taschen wären Ihre Aufmerksamkeit schon wert. Und den Preis sind sie es auch. Denn wo 10 Stunden Arbeit drin stecken, müssen 1000 Euro drauf stehen. Jedenfalls bei einem regulären Handelsartikel.

Wenn bei uns am Messestand über die Preise gemosert wird, dann frage ich gerne: „Wie viele Silberbestecke wollen sie sich denn in ihrem Leben kaufen?“ Oder: „Wie viele Personen leben denn in ihrem Haushalt? Ach, nur sie allein? Dann kaufen Sie sich doch einfach ein Messer, eine Gabel, einen Löffel und einen Kaffeelöffel – da sind sie deutlich unter 800 Euro. Und wenn dann mal Besuch kommt, leisten sie sich einfach einen zweiten Satz, falls sie ihren Besuch überhaupt mit Silber bewirten wollen.“ Mal ehrlich – warum sollen wir für jemanden ein Silberbesteck herstellen, der noch nicht einmal den Silberpreis bezahlen will? Es ist aber auch ein typisches Beispiel für Kunden, die Manufaktur mit Marke verwechseln.

Ganz offensichtlich denken viele Kunden, dass sie von einer Marke beim Preis sowieso hemmungslos über das Ohr gehauen werden. Andreas Mann, Geschäftsführer von Comtesse, hat dazu auf dem 3. Zukunftsforum Deutsche Manufakturen in Solingen die Theorie aufgestellt: Viele Menschen, insbesondere auf dem deutschen Markt, seien heutzutage gar nicht mehr in der Lage, Qualitäten zu unterscheiden. Deshalb klammerten sie sich auch so sehr an Marken und Labels als Orientierungspunkte – obwohl sie sich gerade von diesen beim Preis über den Tisch gezogen fühlen. Daher wahrscheinlich auch der große Spaß am Preis-Schnäppchen. Denn ein anderer oft gehörter Hersteller-Spruch ist: Wir Deutschen seien am Vormittag als Kunden Gutmenschen – und gingen am Nachmittag im Internet auf Schnäppchenjagd.

Es hat etwas von Absurdität, wenn man ein Produkt für den einheimischen Markt aus Kostengründen nur im Ausland produzieren lassen kann. Denn das bedeutet ja nur, dass die Kunden den Preis der Fertigung bei sich zu Hause nicht bezahlen wollten. Und dass das Produkt nur durch eine Art Ausbeutung – das Nutzen der schlechten Entlohnung der Arbeitnehmer in Schwellen- und Entwicklungsländern und das Inkaufnehmen von nach unserem gesellschaftlichen Verständnis unmöglichen Arbeitsbedingungen – zu einem für uns akzeptablen Preis gefertigt werden kann.

Ich proklamiere nicht gleich: „Buy German“. Auch nicht: Kaufen Sie keine Industrieprodukte. Sondern: Wenn Sie es irgendwie können, dann kaufen Sie nachhaltige Produkte. Nachhaltig auch im Sinne der Frage, ob das Produkt wohl wirklich zu diesem niedrigen Preis unter akzeptablen Bedingungen gefertigt werden konnte.

Denn ein ganz anderes Problem lässt sich damit auch erschlagen: das der Konsumunlust. Denn mal ganz ehrlich: Macht der Medion-Lautsprecher, gekauft bei Aldi, tatsächlich satt? Oder sollte man nicht einfach mal über Ceratec aus Bremen nachdenken oder sogar über einen CD-Player von Restek aus dem hessischen Fuldabrück? In dieser Manufaktur gibt es immerhin eine lebenslange Nachrüst-Garantie für später verbesserte Bauteile. Klar kostet die gefräste Edelstahlfront Geld – aber dafür kann man die Leute, die diese Spezialteile ausgetüftelt und oft auch persönlich zusammengeschraubt habe, einmal alles fragen, was man dazu schon immer mal fragen wollte. Manufaktur-Produkte machen eben satt und zufrieden. Nachhaltig.

P. S.: Ach, Sie hören keine Scheiben mehr? Na, dann weiterhin viel Spaß auf dem Weg ins Pay-per-hear bei iTunes & Co. Immerhin kann dann ein anderes Überwachungsprogramm permanent registrieren, was Sie wirklich hören. Und vielleicht gibt es bald ja auch eine kostenpflichtige Schnittstelle für Konsumforscher bei der NSA – dann würden sich ganz neue Wirtschaftskreisläufe schließen.

Fotos: Louis Koch, Wigmar Bressel, privat

Dieses Essay erschien im Jahr 2014 in der Zeitschrift ‚Objects No. 7‘ des Direktorenhaus – Museum für Kunst, Handwerk und Design

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André Scheffler wird Geschäftsführer der Besteckmanufaktur von Koch & Bergfeld

21. Januar 2023, Bremen. Geduld ist keine Tugend – aber sie ist wichtig, wenn man eine der interessanten Positionen in der deutschen Wirtschaft erreichen will. Oder wie würden Sie es bezeichnen, wenn es um ein mehr als 190 Jahre altes und unabhängiges Familienunternehmen geht? André Scheffler ist alt genug. Er ist 61. Jung und dynamisch im Kopf. Es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Er hat anderthalb Jahre auf seine Einstellung gewartet. Er hat locker durchgehalten. Nun wird der langjährige Vertriebsleiter der Porzellanmanufaktur Fürstenberg neuer Geschäftsführer der Besteckmanufaktur von Koch & Bergfeld in Bremen. Es geht für ihn vom Porzellan ins Silber. Er verspricht uns allen: „Ich werde mein gesamtes Herzblut in die Weiterentwicklung dieses Unternehmens stecken.“ Gründungsjahr 1829 – aber jede Generation muss es erhalten und in die nächste weitertragen.

Scheffler kommt aus Bad Zwischenahn, die Gemeinde mit eigenem „Meer“, das der drittgrößte See Niedersachsen ist. Die Region heißt Ammerland, wird durch Baumschulen geprägt und bereichert durch deren privat-öffentliche Rhododendron-Parks – berühmt ist sie auch für den ‚Ammerländer Löffeltrunk‘ aus dem Zinnlöffel in der linken Hand und dem Spruch, den die beiden sich Zuprostenden im Wechsel sprechen: „Ick seh di! Dat freit mi! Ik sup di to! Dat do! Ik heb di tosapen! Hest’n Rechten drapen! So hebt wi dat immer doh‘n! So schall dat ok wieter goh’n!“ Plattdeutsche Kultur, immer noch gesprochen, Prost dem, der im Ammerland mit dem Zinnlöffel unterwegs ist – Achtung: in der linken Hand, die rechte jederzeit frei für den Griff zur Waffe gegen mögliche Unterknechter aus dem Süden… im Grenzland zu den Friesen, die übergriffigen und respektlosen Missionaren notfalls mal den Kopf abschlagen, solche Menschen sind das da halt.

Manufakturen-Blog: So verliert man offensichtlich talentierte Mitarbeiter - Gottfried Kochs 'Spaten', den Wilkens nicht produzieren wollte, weswegen Koch kündigte und dessen Entwurf immer noch einen größeren Anteil am Umsatz von Koch & Bergfeld ausmacht (Foto: Koch & Bergfeld Besteckmanufaktur GmbH)

So verliert man offensichtlich talentierte Mitarbeiter – Gottfried Kochs ‚Spaten‘, den Wilkens nicht produzieren wollte, weswegen Koch kündigte und dessen Entwurf heute immer noch einen größeren Anteil am Umsatz von Koch & Bergfeld ausmacht.

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Der sehr viel feinsinnigere und sehr viel weniger bäuerliche Scheffler hat in den 1980er Jahren Betriebswirtschaftslehre in Münster studiert, ist Diplom-Kaufmann. Seine Stationen waren unter anderem Parfums Christian Dior, der Strumpfhersteller Falke und hier wieder die Marken Dior sowie Joop, die Sara-Lee-Group, Carl Albani in Augsburg, EganaGoldpfeil – und dann eben die historische Porzellanmanufaktur Fürstenberg, gegründet im Jahr 1747 von Karl dem Ersten (1713-1780), Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, die Nummer Drei der berühmten Vier bestehend aus Meissen, KPM und Nymphenburg.

Nun also Koch & Bergfeld. Die Silberschmiede wurde von Gottfried Koch, der bei Wilkens gelernt hatte, im Jahr 1829 gegründet, weil sein Lehrherr die von ihm entworfene Alternative zur bestehenden Wilkens-Version des berühmten ‚Spaten‘-Bestecks (die älteste europäische Besteckform gleich nach dem geschnitzten Holzlöffel) nicht produzieren wollte. Koch kündigte, ging nochmal auf Wanderschaft, lernte Ludwig Bergfeld kennen, man heiratete auf dem Durchweg in Hannover zwei Schwestern – voilà. Aus ‚G. Koch‘ wurde Koch & Bergfeld.

Die Kinder der Firmengründer beschafften eine Dampfmaschine, erfanden um das Jahr 1860 herum das Verfahren, wie man Stahlwerkzeuge herstellte und zum Schneiden und Prägen des weicheren Silbers einsetzte – die Preise für Silberbesteck stürzten auf ein Zehntel ab, wer von den Mitbewerbern nicht nachmachte, ging pleite. Große Teile des Bürgertums konnten sich auf einmal das begehrte Besteck der Superreichen der bisherigen Zeiten leisten. Bestens für die Gründerzeit, die viele Menschen viel besser situierte. Zwanzig Jahre später hatte man 800 Beschäftigte und war reich.

Bergfelds schieden nach hundert Jahren aus, Kochs verkauften im Jahr 1989, kehrten jedoch nochmal als Minderheitsgesellschafter in den 2000er Jahren in die Immobilienbesitzgesellschaft (Stichwort: „Neustädter Schlösschen“) für 12 Jahre zurück.

Keine deutsche Besteckmarke steht so für Echtsilber (925er Sterling), wie diese: rund 92,5 Prozent der gefertigten Bestecke sind aus Sterlingsilber; Koch & Bergfeld entwarf im Jahr 1967 den UEFA Champions-League-Pokal, die Korpuswerkstatt inzwischen viele weitere Pokale und Trophäen. Das Besteck reiste früher auf den Ozeandampfern des Lloyd, liegt heute in vielen deutschen Botschaften auf dem Tisch, wurde von den Vereinigten Arabischen Emiraten vor einigen Jahren als Gastgeschenk verwandt – und auch US-Präsident Barack Obama speiste auf Deutschland-Besuch mit Gottfried Kochs ‚Spaten‘. Von 1829.

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Fotos & Videos: Wigmar Bressel

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Sie sollte den „guten Geschmack des deutschen Volkes“ fördern – des Kaisers Majolika-Manufaktur Cadinen

17. Dezember 2022, Lüneburg. Welch ein Projekt! Wenn der Kaiser höchstpersönlich „auf die Ausbildung guten Geschmacks im deutschen Volke einwirken“ wollte – dann war Großes, wenn nicht gar Kulturell-Revolutionäres, in Vorbereitung. Der vielschichtige, schillernde, ganz sicher exzentrische, bisweilen unverständliche Wilhelm der II. (1859 – 1941) hatte im ostpreußischen Cadinen bei Elbing mit Blick aufs Haff im Jahr 1898 ein verschuldetes historisches Gut aus Ritterordenszeit als Sommer-Option erworben; dort wurden Pferde gezüchtet – und Ziegel gebrannt, aus denen man den ganzen Ort (heute Kadyny, 500 Einwohner) am Erbauen war. Die feinen Waren aus der von seinem Vorfahren, dem berühmten Friedrich dem Großen, entwickelten Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) in Berlin für die königlichen Schlösser und Besitzungen, waren teuer. Da kam die wiederaufkommende Begeisterung für Ton und Fayence gerade recht: Der Cadiner Ton war gut und hielt den angeordneten Beprobungen stand. So startete das Projekt ‚Künstlerische Volksbildung‘. Auf die Geschichte bin ich im sehr besuchenswerten Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg gestoßen.

‚Majolika‘ – ein aus ursprünglich von Mallorca („mallorcinisch“ – daher der Name) unter maurischer Entwicklung am Beginn der Neuzeit auf den europäischen Kontinent über Italien eingesickertes Verfahren, bei dem auf roten Ton Zinnglasuren in kräftigen Farben aufgebrannt werden. Der große Vorteil: Ton ist ein Naturprodukt, wird in Tongruben abgebaut, wird getöpfert und ist unkompliziert zu brennen. Anders als die Zutaten für Porzellan, die gereinigt und als Masse konfiguriert werden, kann man mit dem Naturmaterial Ton einfach loslegen. Wenn man dann ein Verfahren entwickelt, wie man ähnliche Malereien, wie auf dem feinen Porzellan, auftragen kann, dann ist Majolika eine Art günstigeres Porzellan – also geeignet für sehr viel größere Bevölkerungsschichten, die ja eh mit Tongefäßen seit vielen Jahrtausenden vertraut sind.

Im Jahr 1902 startete die Majolika-Manufaktur. Haken an der Sache: Wilhelm der II. glaubte an die Neuauflage der Kunst der Antike bis maximal zum 18. Jahrhundert – Historismus eben. Nur in wenigen Fällen wurde in Cadinen zeitgenössische Kunst produziert. Es kam die Katastrophe des 1. Weltkriegs – Wilhelm dankte ab und reiste ins niederländische Exil ab. Aber was ihm und seiner Familie der Hohenzollern blieb, waren ja die riesigen Besitzungen im Deutschen Reich. Allerdings ließen sich diese jetzt von ihnen nicht mehr mit selbsterteilten Staatsaufträgen subventionieren. Stattdessen mussten sich die Besitzungen ab sofort rechnen und Geld auf dem Markt verdienen. Für Cadinen gilt dies als Glücksfall: Nun war echter Volksgeschmack gefragt – und statt der Antike und der Rocaille des lange vergangenen Rokoko, waren jetzt Tierskulpturen angesagt, deren Beliebtheit dazu führte, dass bei Flucht und Vertreibung Einzelteile gerettet, aber auch aus vielen Ecken der heutigen Bundesrepublik Cadiner Majolika an das spätere Museum abgegeben wurden.

Manufakturen-Blog: Eher untypisch - ein Madonnen-Relief (Maria mit dem Kind) aus Cadinen. (Foto: Wigmar Bressel)

Eher untypisch – ein Madonnen-Relief (Maria mit dem Kind) aus Cadinen (um 1905). Wilhelm der II. war ja evangelisch – und Maria spielt vor allem in der römisch-katholischen Kirche eine Rolle („Marienverehrung“). Maria ist ja nach Adam (wurde im christlichen Glauben von Gott erschaffen), Eva (wurde in diesem Glauben von Gott aufgrund Adams Klage über Einsamkeit aus einer seiner Rippen geschaffen) erst als dritter Mensch an einer Art Menscherschaffung ohne Zeugungsakt (bei ihr: durch den sog. ‚Heiligen Geist‘ ohne ‚befleckte Empfängnis‘) beteiligt. Jesus wurde erst auf dem Konzil von Nicäa (im Jahr 325) einheitlich als Teil der Trinität aus Gott – Heiligem Geist und eben ihm – festgelegt; und ist seitdem eben nicht mehr Teil der Schöpfung.

Manufakturen-Blog: Elch - Keramik um 1935 von Arthur Steiner (1885 - 1960) (Foto: Wigmar Bressel)

Elch – Keramik um 1935 von Arthur Steiner (1885 – 1960)

Manufakturen-Blog: 'Mädchenkopf mit Lilie' von Ludwig Manzel - einem Berliner Lieblingskünstler von Wilhelm II. Der durfte sogar Jugendstil... (Foto: Wigmar Bressel)

‚Mädchenkopf mit Lilie‘ (zwischen 1905 und 1910) von Ludwig Manzel – einem Berliner Lieblingskünstler von Wilhelm II. Der durfte sogar Jugendstil…

Manufakturen-Blog: Wilhelm der II., wie er heute noch in der Lobby-Tagesbar des Hotel Atlantic in Hamburg als Kachel-Bild aus seiner eigenen Manufaktur hängt - seit dem Jahr 1909. (Foto: Wigmar Bressel)

Wilhelm der II., wie er heute noch in der Lobby-Tagesbar des Hotel Atlantic in Hamburg als Kachel-Bild aus seiner eigenen Manufaktur hängt – seit dem Jahr 1909.

Als die Rote Armee einmarschierte und Cadinen später polnisch wurde, wurde die Majolika-Manufaktur eingestellt; Verwalter Prinz Louis Ferdinand trat die Flucht über das zugefrorene Haff an. Ein amerikanischer Erwerber des Gutes nach der Wende schlachtete die Gebäude nach kaiserlichen Hinterlassenschaften aus, heißt es, ein britischer Investor ging mit einem Hotel im Schlösschen pleite. Ein neuer Versuch unter polnischer Führung läuft. Auch das Gestüt soll weiterbetrieben werden. Ich war im Jahr 2000 einmal dort – aber da war alles noch in Unordnung.

Was man aber aus Cadinen heute noch bestellen kann, das sind die kaiserlichen Ziegel. Wilhelm der II. hatte auch die Ziegelei weiterbetrieben, modernisiert und ausgebaut. Diese sind also verfügbar. Außerhalb des Landesmuseums hängt ein großes Kachel-Bild aus Cadiner Majolika im Foyer des Hamburger Hotels ‚Atlantic‘ (das, in dem Udo Lindenberg lebt) – mit seiner Majestät darauf; ein anderes Beispiel sind die Fliesen des Alten Elbtunnels – auch Cadiner Majolika.

Fazit: Volksgeschmacksbildung schiefgegangen – Erinnerung und vielleicht Kultstatus erreicht; Cadiner Originale kosten auf eBAY soviel, wie das eigentlich viel teurere KPM-Porzellan.

Fotos/Repro: Wigmar Bressel (im Ostpreußischen Landesmuseum bzw. im Hotel Atlantic)

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Die Leinenweberei Seegers & Sohn – vom Aufbruch in die Zukunft

1. November 2022, Steinhude. Eigentlich sollten Manufakturen ‚resilient‘ gegen globale Krisen sein: Sie produzieren vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt, beliefern genauso Händler wie Endverbraucher vorrangig auf regionalen und nationalen Märkten, reparieren die Produkte, die nach Jahren defekt oder beschädigt zurück ins Werk kommen, können meistens noch Ur-Formen aus ihrer Gründungszeit nachfertigen. Sie produzieren ethisch unter Einbeziehung ihrer lokalen Anwohner, den Auflagen der Gewerbeaufsicht und zahlen ortsübliche, dem jeweiligen Landes- oder EU-Recht unterliegende Gehälter. Klar, sie sind nicht gegen Energiepreis-Entwicklungen durch Kriege wie in der Ukraine gefeit und müssen sich auch den Notwendigkeiten steigender Umwelt- und Gesundheitsschutz-Auflagen stellen… Gerade bedrücken die schlechten Nachrichten aus der sächsischen Leinenweberei Hoffmann in Neukirch/Lausitz – da flattert über Instagram die Einladung zu den ‚Tagen der offenen Tür‘ bei Hoffmanns Mitbewerber, der Leinenweberei Seegers & Sohn aus Steinhude am gleichnamigen „Meer“, aufs Smartphone. Eine willkommene Einladung, nachzuschauen, was die älteste deutsche Leinenweberei (gegründet im Jahr 1765) anders macht…

Also Sonntagsausfahrt ans Steinhuder Meer: Die Bleichenstraße herunter, leuchtet schon der riesige Schriftzug ‚Leinenfabrik‘ den Besuchern entgegen. Vor einer abgewaschenen und neuverputzten Spät-Gründerzeit-Industriefassade aus dem Jahr 1912 erwarten uns 50 Außengastronomie-Sitzplätze – rappelvoll, passend zu den 100 Fahrrädern und weiteren 50 Autos, die auf dem Firmenparkplatz stehen. Das Unternehmen gönnt sich einen eigenen Museumsteil (so erreicht man die Sonntagsöffnung und die Touristen: „Frühstück ab 10 Uhr“), in dem auch ein Teil des Cafés untergebracht ist. Dabei ist Seegers kein Museum – sondern ein Produktionsbetrieb, der seine Nische im Markt perfekt bedient: 140 Meter Leinen, Halbleinen und Baumwolle für Handtücher, Bettwäsche, Tischdecken, Servietten, Brotbeutel und und und werden jeden Werktag gewebt. Die Kunden: Berühmte Hotels, die Deutschen Botschaften, das Kanzleramt – aber vor allem unendlich viele Menschen, die mit Tischkultur leben, die auf die halbfesten und durch den Leinenanteil besonders saugstarken Geschirrhandtücher stehen, mit denen sich Gläser so hervorragend polieren lassen… weg ist der Kalkrand aus der Geschirrspülmaschine!

Dann der Werksrundgang durch die Heiligtümer: der Maschinensaal mit den 16 Jacquard-Webstühlen, das Lochkarten-Archiv mit den mehr als 5000 Papier-Lochkarten, über deren Abtastung sich die Webstühle das Muster für den zu webenden Stoff ziehen, die Garnrollen mit ihren bis zu 30 Kilometer langen Fäden, die Näherei mit ihren acht Arbeitsplätzen, Stofflager, Garnlager. Uns führt der 34jährige Weber Sascha Pleger, der seit elf Jahren im Unternehmen arbeitet und heute die Produktion verantwortet. Geduldig erklärt er, wie ein Webstuhl arbeitet, funktioniert, „tickt“. Er erzählt vom tagelangen Umspannen, wenn auf dem Webstuhl ein anderes Muster gewebt werden soll, denn die Stühle verfügen über 3600 bis 9000 Kettfäden – das sind die Längsfäden, durch die der Schussfaden (das ist der mit der Farbe) hindurchgeschossen wird und durch dessen Steuerung (auf und ab) über die Lochkarte das Muster entsteht; jeder Einzelne muss durch den Stuhl gezogen und verknotet werden. Geduld ist gefragt – und man darf nicht durcheinanderkommen… Sind die Webstühle nicht schon zu alt für eine moderne Fertigung? Pleger stellt die Gegenfrage: „Kann ich einen modernen, computergesteuerten Hochleistungswebstuhl selbst reparieren? Diese mechanischen Webstühle kann ich auseinanderbauen und jedes einzelne Bauteil ersetzen – bei den neuen Maschinen muss ich immer auf den Mechaniker warten.“ Und häufig wird es dann ein Programmierer sein, der an die Software heran muss…

Manufakturen-Blog: Im Websaal der Leinenfabrik Seegers & Sohn in Steinhude mit ihren Jacquard-Webstühlen (Foto: Wigmar Bressel)

Im Websaal der Leinenweberei Seegers & Sohn in Steinhude mit ihren Jacquard-Webstühlen

Manufakturen-Blog: Anstehen im rustikalen werkseigenen Café - früher war das ein Teil der Bleichhalle (Foto: Wigmar Bressel)

Anstehen im rustikalen werkseigenen Café – früher war das ein Teil der Bleichhalle

Manufakturen-Blog: ...der Schriftzug 'Leinenfabrik' ist schon von Weitem zu sehen (Foto: Wigmar Bressel)

Seegers‘ Schriftzug ‚Leinenfabrik‘ ist schon von Weitem zu sehen

Manufakturen-Blog: Die Parkplätze rund um den Betrieb sind voll mit Fahrrädern und Autos (Foto: Wigmar Bressel)

Die Parkplätze rund um den Betrieb sind voll mit Fahrrädern und Autos

Manufakturen-Blog: Beim Weben - der Webstuhl fertigt das Muster 'Gregor' (Foto: Wigmar Bressel)

Beim Weben – der Webstuhl fertigt gerade das Muster ‚Gregor‘

Manufakturen-Blog: Im Werksverkauf liegen Tischläufer neben Handtücher, Decken, Bettbezügen, Servietten... (Foto: Wigmar Bressel)

Im Werksverkauf liegen Tischläufer neben Handtüchern, Decken, Bettbezügen, Servietten…

Gehörschutz ist in der Produktion Pflicht. Pleger warnt vor – und schaltet einen Webstuhl ein. Dieser rattert sofort los, erzeugt 108 Dezibel. Für einen Moment geht das. Man sieht zu, wie langsam ein klassisches Muster für Geschirrtücher entsteht und sich auf eine Rolle wickelt. Kleine Reiter aus Blech bewegen sich auf und ab – für jeden Kettfaden einer. Reißt ein Faden, dann merken das auch diese Webstühle schon, und bleiben sofort stehen – denn das war eines der ersten Probleme, die gelöst werden mussten. Das Muster darf keine Unregelmäßigkeiten haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch sieben Leinenwebereien in Steinhude, das bereits im Jahr 1728 das Weber-Zunftrecht verliehen bekam. Das Steinhuder Meer bedeutete gute Wasserversorgung – eine Grundvoraussetzung für den Anbau von Flachs, der vor der Baumwolle das europäische Textil war. „Mein Großvater hat sich in den 1950er Jahren gegen die damals sehr populäre Verarbeitung von Polyester und anderen Kunstfasern entschieden“, erzählt Adrian Seegers, heute geschäftsführender Gesellschafter in neunter Generation, auf der Rückseite der Speisekarte des hauseigenen Cafés; sein Vorfahr, der Weber Johann Dietrich Jacob Seegers, hatte das Unternehmen damals als ‚Leinen- und Tischzeugweberei Seegers‘ gegründet. Jedenfalls führen die Seegers und ihre Mitarbeiter auf diese großväterliche ablehnende Haltung gegenüber Plastiktischdecke & Co. ihr Überleben zurück. Als einziger Weberei in Steinhude. Hotels und Gastronomen sei Dank.

Inzwischen hat sich die Haltung in bestimmten Kreisen geändert: Wer heute in die Gastronomie liefern will, bezieht sein Garn besser aus der EU – denn der Nachweis der Unbedenklichkeit bezüglich Pestiziden muss sein. Seegers & Sohn verwebt nur Oeko-Tex-zertifizierte Garne. Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen sind dem Unternehmen ein Anliegen. Es soll ja alles stimmig sein.

Wenn man durch den Betrieb geleitet wurde, landet man im Werksverkauf in der alten Bleichhalle und auf dem alten Garnboden. Logisch. Wer eben von den Produkten überzeugt wurde, der soll ja auch kaufen können: Geschirrtücher gibt es ab sechs Euro, Reinleinen-Bettwäsche ab 186,00 Euro pro Garnitur. Alles, wenig überraschend, auch in einem tadellos funktionierenden Online-Shop. Man kann nur staunen, wie richtig solch ein kleiner Betrieb (mit 34 Mitarbeitern) dort in Steinhude alles macht!

Fotos: Wigmar Bressel

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Die Leinenweberei Hoffmann muss hoffen

20. Oktober 2022, Neukirch/Lausitz. Aus der Lausitz – da, wo demnächst die letzten Braunkohletagebaue in Badeseen umgewandelt werden, kommen auch schlechte Nachrichten. Dort, wo die europäische Manufakturen-Entwicklung begann, als im 17. Jahrhundert sogenannte ‚Verleger‘ Tuchproduktionen im großen Stil in Auftrag gaben und von Heimarbeitern und Handwerksbetrieben mithilfe der Dampfmaschine eben die ersten Manufakturen gegründet wurden, meldete im Frühsommer ausgerechnet der älteste dort noch existierende Leinen-Weber, die Leinenweberei Hoffmann in Neukirch, Insolvenz an. „Die Aussichten waren schlecht, es drohte die Zahlungsunfähigkeit“, sagt Geschäftsführer Reinhard Ruta, der seit 14 Jahren den Betrieb leitet.

Seit dem Jahr 1905 hatten sich zunächst Karl-Gustav Schulze und Martin Hoffmann, dann nur noch die Hoffmanns, seit dem Jahr 2007 schließlich die Enthusiasten Reinhard Ruta und Sieghard Albert als Altersnachfolger, einen Namen gemacht, seit sechs Jahren nur noch Reinhard Ruta. Die DDR-Zeit hatte die Weberei, nach der Enteignung im Jahr 1971, innerhalb des ‚Volkseigenen Betriebs Wäscheunion‘ unter dem Namen ‚Damastweberei Oberodewitz‘ einigermaßen selbständig und glücklich überstanden – da Hoffmanns nie aus den Büchern und dem Grundbuch gelöscht wurden, erfolgte die Rückgabe durch die Treuhand eher reibungslos und im Jahr 1991 ausgesprochen früh.

Der Neustart in der Alteigentümer-Struktur erfolgte mit einem Paukenschlag: Die damalige Deutsche Bundespost plazierte in Neukirch einen Großauftrag – Postsäcke! Banken folgten, ließen sich die klassischen Münzbeutel fertigen, die so griffig und haltbar zugleich sind.

Aber was Hoffmann natürlich auszeichnet, ist die Vielfalt der Webmöglichkeiten, die in einem einzigen Betrieb mit gerade einmal 17 Beschäftigten vereint sind: historische Schützen-Webmaschinen für Gewebe mit fester Webkante, Jacquard-Webmaschinen für Tischdecken, Servietten etc. sowie elektronisch gesteuerte Webmaschinen für das klassische Halbleinen-Geschirrtuch. Darüberhinaus hat sich das Unternehmen auch darauf spezialisiert, neben den Heimtextilien sogenannte ‚technische Gewebe‘ herzustellen – also Gewebe, die technisch-physische Eigenschaften haben müssen, die von den Auftraggebern benötigt werden. Reinhard Ruta: „Ein Großteil unseres Geschäfts mit sehr treuen Kunden, mit denen wir teilweise schon mehr als 20 Jahre eng zusammenarbeiten.“

Man war bisher auch durchaus innovativ: Toll sind die Frottée-Handtücher aus einem Mix aus 40 % Leinen und 60 % Baumwolle; das ‚Zwei-Zonen-Flex-Tuch‘ zum Rückenrubbeln mit unterschiedlichen Härtegraden ist eine besondere Entwicklung für den Wellnessbereich und wurde beim Wettbewerb zum ‚Manufaktur-Produkt des Jahres 2015‘ ausgezeichnet.

‚Ja – und wo ist jetzt das Problem?‘, möchte man denken.

Da ist das Problem: Zunächst hatte es seit Jahrzehnten geheißen: ‚Bau dein Lager ab – das bindet nur Kapital. Alle Lieferanten liefern doch just in time!‘ Nun – das bezog sich auf den regionalen Flachsanbau (Leinen wird aus der Flachs-Faser gesponnen); der ging jedoch zurück, bis er nahezu verschwand. Also auf einmal: Belgien, Irland, Frankreich, Italien… Ägypten… China… Just in time? „Lieferzeiten und Engpässe!“, grummelt Ruta: „Die Verfügbarkeit von Flachsgarnen auf dem Beschaffungsmarkt ist in den vergangenen zwei bis drei Jahren schwierig geworden. Die Anbieterstruktur hat sich dramatisch verändert, die Anzahl der Garnlieferanten ist geringer geworden, gewünschte Garnqualitäten gibt es zeitweise oder teilweise überhaupt nicht mehr. Wie auch bei vielen anderen Rohstoffen und Zulieferprodukten in anderen Branchen. Darüber hinaus sind massive Preissteigerungen einhergehend mit der Forderung der Lieferanten nach Vorauskasse auch ein Teil der Ursachen für die gesamte Beschaffungsproblematik.“

Bedeutet: Aufträge theoretisch ja, Lieferfähigkeit nein. Farben, die der Kunde seit Jahren für kleine Chargen ordert, – plötzlich nicht mehr aufzutreiben. Immer auf der Suche nach dem passenden Garn – das dafür jedoch europalettenweise zum Preis von bis zu zehntausend Euro.

Ute Czeschka vom Manufakturhaus in Meißen handelt seit vielen Jahren mit Hoffmann-Produkten, wir sprachen vor langer Zeit schon über Hoffmann, sie sagte damals: „Super Qualität, schönes, seltenes, klassisches Design – aber, wie die Produkte von vielen Manufakturen, zunächst mit zu geringer Händler-Marge ausgestattet.“ Ein Problem: Aus Angst vor ausbleibenden Aufträgen und zu geringem Selbstbewusstsein, sorgenvoll auf die Einkaufsgewohnheiten der großen Ketten in China blickend, hat man die eigenen Produkte zu günstig am Markt plaziert; am Ende bleibt für keinen Marktteilnehmer Geld übrig: Händler verdienen zu wenig, die Aufträge kommen nur noch von Spezialisten, der Hersteller verkauft aus Verzweiflung fast alles direkt an den Endverbraucher oder Großkunden – und gerät wegen fehlender Schaufenster in der Gesellschaft in Vergessenheit. Das Problem vergrößert sich und vergrößert sich. Am Ende kennt fast niemand mehr den tollen ‚Oberlausitzer Leinendamast‘.

Dagegen könnte Marketing helfen. Facebook, Instagram, Twitter, Pinterest – wie sie alle heißen. Ein zeitgemäßer Online-Shop bestimmt auch. Reinhard Ruta weiß um die Mängel – in einem Interview sagte er: „Wir haben hervorragende Produktionsfachleute. Was uns aber fehlt, ist geeigneter Nachwuchs. Wir brauchen jüngere Leute, die am Erhalt unseres Handwerks interessiert sind und sich mit heutigen Marketingfragen und digitalen Prozessen auskennen.“ Er weiß um die Mängel – aber er sanierte lieber einen Teil des Produktionshallen-Dachs; auch wichtig, dass es nicht hereinregnet und die Heizung den Oberlausitzer Himmel übermäßig erwärmt.

Der Wirtschaftsingenieur aus dem nordhessischen Kassel kam als glücklicher Kunde: „Ich habe in Berlin eine Hoffmann-Bettwäsche-Garnitur in einem Fachgeschäft gekauft – die hat mich so begeistert!“ Er fragte sich zu Hoffmann durch, besuchte den Hersteller auf einer Messe, dann den Betrieb in Neukirch.

Aus Produkt-Begeisterung wurde Eigentum: „Die Tochter der Familie Hoffmann und ihr Mann brauchten eine Altersnachfolge.“ Ruta inzwischen auch: „Ich bin 64. Ich kann das ja nicht ewig machen.“ Und sein Alter verhinderte ja auch, realistisch betrachtet, ein größeres Bankdarlehen für seinen inhabergeführten Betrieb.

Manufakturen-Blog: Das Bespannen eines mechanischen Webstuhls dauert drei Tage (Foto: Wigmar Bressel)

Das Bespannen einer mechanischen Webmaschine dauert drei Tage

Manufakturen-Blog: Geschäftsführer Reinhard Ruta vor der historischen Stechuhr - sie ist immer noch in Betrieb (Foto: Wigmar Bressel)

Geschäftsführer Reinhard Ruta an der historischen Stechuhr – sie ist immer noch in Betrieb

Manufakturen-Blog: Eingang zum Werksverkauf an der Zittauer Straße (Foto: Wigmar Bressel)

Eingang zum Werksverkauf an der Zittauer Straße

Manufakturen-Blog: Die Größe der Produktionsgebäude wird erst klar, wenn man das Gelände umschreitet (Foto: Wigmar Bressel)

Die Größe der Produktionsgebäude wird erst klar, wenn man das Gelände umschreitet

Manufakturen-Blog: Mechanisches Zusammenlegen der langen Stoffbahnen für den Transport zum 'Veredeler' - zum Waschen und Bügeln und Vorbereiten für die Auslieferung an die Kunden (Foto: Wigmar Bressel)

Mechanisches Säumen und Zusammenlegen der langen Stoffbahnen – hier: technisches Gewebe – für die Weiterverarbeitung, Konfektionieren und Vorbereiten für die Auslieferung an die Kunden

Manufakturen-Blog: In der Näherei (Foto: Wigmar Bressel)

In der Näherei

Manufakturen-Blog: Zuschnitt von Küchenhandtüchern für eine Kundin in einer Sonderfarbe (Foto: Wigmar Bressel)

Zuschnitt von Küchenhandtüchern für eine Kundin in einer Sonderfarbe

Dass das Problem bei Hoffmann überhaupt Wellen schlug, ist der Leipziger Initiative ‚Lokaltextil‘ zu verdanken. Diese ist derzeit sehr mit der Idee der Lausitzer Leinen-Fertigung und des regionalen Flachs-Wiederanbaus befasst. Als „Initiative zur Stärkung des textilen Bewusstseins“ veröffentlichte sie deshalb am 5. Juli 2022 einen Hilferuf im Internet und auf Instagram: „Bitte unterstützt die Leinenweberei Hoffmann!“. Im Text heißt es: „Leider gehen die jüngsten Schwierigkeiten unserer Zeit auch an der Leinenweberei Hoffmann nicht spurlos vorüber. Corona, Krieg und Beschaffungsprobleme setzen die Leinenweberei Hoffmann zunehmend unter Druck…  Das erfordert eine andere Lagerwirtschaft und Vorfinanzierungsmittel… Habt Ihr zukunftsorientierte Ideen für die Leinenweberei? Kennt Ihr Investoren, die nachhaltige lokale Wertschöpfungsketten fördern möchten?“

Der erste Investitionsbedarf – ein Mix aus Kaufpreis und ‚working capital‘ sowie echter Investitionen in die historische Produktion und Immobilienteile, Besucherparkplätze und einen würdigen als auch barrierefreien Werksverkauf, jedoch auch einen zeitgemäßen Online-Shop, Internetauftritt und Social-Media-Aktivitäten – wird sich auf geschätzte 1,5 Millionen Euro belaufen. Die Summe hört sich ersteinmal nach etwas an – aber man darf nicht vergessen, dass die Leinenweberei Hoffmann sowohl sächsisches als auch nationales Wirtschaftskulturgut ist; das gilt es zu erhalten und in die nächste Generation zu transformieren – sonst sind in Jahrhunderten erworbene Fähigkeiten und Kenntnisse für die deutsche Gesellschaft verloren. ‚Die Letzten ihrer Art‘ – es lohnt sich darüber nachzudenken, wie wir sie erhalten. Ruta sagt jedenfalls: „Ich werde jeden Investor unterstützen, der den Betrieb erhält und in die Zukunft führt.“

Insolvenzverwalter Dr. Ralf Goethner, der seit dem 4. August das Sagen hat, hat inzwischen Kaufinteressenten. Mal sehen, wen und welches Konzept er den Gläubigern und der Öffentlichkeit präsentiert.

Fotos: Wigmar Bressel

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Der Manufakturen-Blog auf Istagram II – 1250 Abonnenten und ihre zehn beliebtesten Bilder

27. September 2022, Bremen. Seit sieben Jahren postet der Manufakturen-Blog auch auf Instagram – manchmal täglich, manchmal wöchentlich, manchmal mit Urlaubspause. Trotzdem sind die Abonnenten-Zahlen des ‚Kanals‘ @manufakturenblog kontinuierlich angestiegen: um 180 im Jahr. Inzwischen lassen sich 1250 Menschen Fotos aus dem Blog dort zeigen. Und – welche Themen-Fotos fanden diese in den sieben Jahren am Interessantesten, welche wurden mehr als hundertmal ‚gelikt‘? Hier die TOP 10 unserer ‚Follower‘ aus 471 Fotos:

Platz 1

Manufakturen-Blog: Claudia Schoemig in ihrem Showroom in der Werkstatt in der Raumerstraße 35 unter einer großen Leuchtreklame eines früheren Berliner Geschäfts (Foto: Wigmar Bressel

Claudia Schoemig von Schoemig Porzellan in ihrem Showroom in der Werkstatt in der Raumerstraße 35 unter einer großen Leuchtreklame eines früheren Berliner Geschäfts – die Geschichte aus dem Blog hier. Veröffentlicht am 2. Mai 2021.

Platz 2

Manufakturen-Blog: Frohstoff ist eine Siebdruckerei in Hamburg, die sich selbst 'Siebdruck- und Textilmanufaktur' nennt (obwohl sie die fertiggewebten Stoffe einkauft) - ich finde die von Hand im Einzeldruckverfahren gestalteten Geschirrtücher von den Motiven her schön und sie finden deshalb neben denen von echten Webereien (Manufaktur) Einsatz in meiner Küche. (Foto: Wigmar Bressel)

Frohstoff ist eine Siebdruckerei in Hamburg, die sich selbst ‚Siebdruck- und Textilmanufaktur‘ nennt (obwohl sie die fertiggewebten Stoffe einkauft) – ich finde die von Hand im Einzeldruckverfahren gestalteten Geschirrtücher von den Motiven her schön und sie finden deshalb neben denen von echten Webereien (Manufaktur) Einsatz in meiner Küche. Veröffentlicht am 9. Mai 2021.

Platz 3

Manufakturen-Blog: ...welch Lieblichkeit! Ein Lustschloss! Aber was macht es im Manufakturen-Blog? Na, dort im Marstall der Dornburger Schlösser mit Blick auf ebendieses Schlösschen begann im Jahr 1920 die Keramik-Werkstatt des Bauhauses ihre Arbeit; die berühmteste Studentin von Gerhard Marcks war Marguerite Friedländer, die später für die Königliche Porzellan-Manufaktur entwarf... (Foto: Wigmar Bressel)

…welch Lieblichkeit! Ein Lustschloss! Aber was macht es im Manufakturen-Blog? Na, dort im Marstall der Dornburger Schlösser mit Blick auf ebendieses Schlösschen begann im Jahr 1920 die Keramik-Werkstatt des Bauhauses ihre Arbeit; die berühmteste Studentin von Gerhard Marcks war Marguerite Friedländer, die später für die Königliche Porzellan-Manufaktur entwarf… Veröffentlicht am 24. April 2020.

Platz 4

Manufakturen-Blog: Schablonen für Löffel in der Besteckmanufaktur von Koch & Bergfeld in Bremen - so überprüft man, ob Rohlinge für Werkzeuge passen. (Foto: Wigmar Bressel)

Schablonen für Löffel in der Besteckmanufaktur von Koch & Bergfeld in Bremen – so überprüft man, ob Rohlinge für Werkzeuge passen. Veröffentlicht am 22. Dezember 2020.

Platz 5

Manufakturen-Blog: Solche Parfüm-Flakons machten den französischen Juwelier René Lalique berühmt - das Unternehmen im Elsaß hat heute ein tolles Werksmuseum in Wingen-sur-Moder, in dem eine Vielzahl von Glaspreziosen gezeigt werden. (Foto: Wigmar Bressel)

Solche Parfüm-Flakons machten den französischen Juwelier René Lalique berühmt – das Unternehmen im Elsaß hat heute ein tolles Werksmuseum in Wingen-sur-Moder, in dem eine Vielzahl von Glaspreziosen gezeigt werden. Der Beitrag zu meinem Besuch dort – hier. Veröffentlicht am 12. November 2020.

Platz 6

Manufakturen-Blog: Kaffeefilter aus KPM-Porzellan an der Wand als Deko - das bietet das KPM-Hotel & Residences im KPM-Quartier in der Berliner Wegelystraße - und auch im gesamten Haus natürlich das Manufaktur-Porzellan. (Foto: Wigmar Bressel)

Kaffeefilter aus KPM-Porzellan an der Wand als Deko – das bietet das KPM-Hotel & Residences im KPM-Quartier in der Berliner Wegelystraße – und auch im gesamten Haus natürlich das Manufaktur-Porzellan. Veröffentlicht am 29. April 2021.

Platz 7

Manufakturen-Blog: Die farbenfrohen Tassen der Bremer Keramikerin Tanja Möwis mit ihrem jeweils andersfarbigen "Sportstreifen"; Möwis leitete eine Keramik-Manufaktur, bevor sie sich selbständig machte. (Foto: Wigmar Bressel)

Meine farbenfrohen Tassen der Bremer Keramikerin Tanja Möwis mit ihrem jeweils andersfarbigen „Sportstreifen“; Möwis leitete eine Keramik-Manufaktur, bevor sie sich selbständig machte. Veröffentlicht am 13. März 2021.

Platz 8

Manufakturen-Blog: ...und da ist sie ja auch schon, die KPM, die Königliche Porzellan-Manufaktur in Berlin; im Jahr 1763 gegründet, drei Jahre danach in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und von Friedrich dem Großen übernommen. Vor ungefähr 20 Jahren von Jörg Woltmann, einem Berliner Bankier, aus dem Eigentum des Bundeslandes Berlin erworben. (Foto: Wigmar Bressel)

…und da ist sie ja auch schon, die KPM, die Königliche Porzellan-Manufaktur in Berlin; im Jahr 1763 gegründet, drei Jahre danach in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und von Friedrich dem Großen übernommen. Im Jahr 2006 von Jörg Woltmann, einem Berliner Bankier, aus dem Eigentum des Bundeslandes Berlin erworben. Veröffentlicht am 10. Februar 2021.

Platz 9

Manufakturen-Blog: Viele Kunsthandwerker wären gerne 'Manufaktur'; aber mit Schneidebrettern lässt sich in der Regel keine Manufaktur aufbauen und betreiben. Ich habe dieses Brett von 'Chiemgauer Schneidebretter' wegen seiner geometrischen Schönheit sofort gekauft - das Unternehmen hat sich trotz sehr vieler Insta-Follower inzwischen woandershin verlagert... (Foto: Wigmar Bressel)

Viele Kunsthandwerker wären gerne ‚Manufaktur‘; aber mit Schneidebrettern lässt sich in der Regel keine Manufaktur aufbauen und betreiben. Ich habe dieses Brett von ‚Chiemgauer Schneidebretter‘ wegen seiner geometrischen Schönheit sofort gekauft – das Unternehmen hat sich trotz sehr vieler Insta-Follower inzwischen woandershin verlagert… Veröffentlicht am 26. Februar 2021.

Platz 10

Manufakturen-Blog: Servierplatten aus der Porzellanmanufaktur Reichenbach, entworfen von Paola Navone; Familie Geithe von Reichenbach leistet ebenfalls erstklassige Arbeit sowie Insta-Arbeit für ihr Thüringer Unternehmen, das so manches Größere inzwischen überlebt hat. (Foto: Wigmar Bressel)

Servierplatten mit dem berühmten Perl-Rand aus der Porzellanmanufaktur Reichenbach, entworfen von Paola Navone; Familie Geithe von Reichenbach leistet erstklassige Arbeit sowie Insta-Arbeit (mehr als 4600 Abonnenten) für ihr Thüringer Unternehmen, das so manches Größere inzwischen überlebt hat. Veröffentlicht am 7. November 2021.

Fotos: Wigmar Bressel

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Zum 275. Geburtstag der Porzellanmanufaktur Fürstenberg

30. August 2022, Fürstenberg/Weser. Die älteste norddeutsche Manufaktur feiert in diesem Jahr ihren 275. Geburtstag: die Porzellanmanufaktur Fürstenberg in Fürstenberg oberhalb der Weser bei Höxter. Einst im Jahr 1747 auf Betreiben von Karl dem Ersten, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, gegründet, um das Fürstentum zu modernisieren, ist die Manufaktur heute sowohl ein staatlich-niedersächsisches Kulturgut, als auch ein Name und eine feste Marke auf der ganzen Welt für herausragendes deutsches Manufaktur-Porzellan. Zu Besuch am Tag der offenen Tür.

Als weißer Solitär steht die Manufaktur-Anlage oben am Berghang: Über der Weser thronend das urige Schloss im Stil der Weserrenaissance, dazugehörend die später gebaute und immer erweiterte Manufaktur mit ihren schlichten Gewerbebauten, Schornsteinen, Shed-Dächern; dann das Dorf Fürstenberg, das erst über hunderte von Jahren den Support für das Jagdschloss der Braunschweiger Herzöge stellte, nahtlos anschließend von Heerscharen von Drehern, Formenbauern, Porzellanmalern, Bossierern, Vergoldern, Brennmeistern und Hüttenknechten bewohnt wurde – den Manufakturmitarbeitern, in der Spitze um die 500, heute um die Einhundert, verstreut und pendelnd bis zu einer Stunde je Fahrt. Fürstenberg bot zwei entscheidende Vorteile: der große Wald des Sollings als Brennmaterial – und der Porzellanbestandteil Kaolin im Abbau im benachbarten Neuhaus.

Karl der Erste war der große Modernisierer in seinem Teil des heutigen Niedersachsen: Er etablierte eine öffentliche Brandkasse (aus der die heutige ÖVB-Versicherung hervorging), gründete als ‚Collegium Carolinum‘ die spätere Technische Universität Braunschweig, beschäftigte Gotthold Ephraim Lessing als Hofbibliothekar, sanierte die Saline Schöningen – und gründete die Bank, die die Basis für die heutige NORD/LB bildete. Und eben Fürstenberg – unabhängig werden vom Import des begehrten „weißen Goldes“ aus Sachsen (Meissen), Berlin (KPM) und Übersee. Nach jahrelangen Selbstversuchen wurde entnervt ein Mitarbeiter der Höchster Porzellanmanufaktur abgeworben…

Zwei Weltkriege und der Absturz der deutschen Adelshäuser in die politische Bedeutungslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik ließen vergessen, dass Braunschweig einmal zu den europäischen ‚Big Playern‘ gehörte: Karls Vorfahren gründeten Bayerns heutige Hauptstadt München und waren mit der Schwester des englischen Königs Richard Löwenherz verheiratet, Karls Sohn Karl Wilhelm Ferdinand versuchte die Französische Revolution zu stoppen, drohte den Aufständischen in Paris mit „Artillerie-Bombardement“ (das ging gründlich schief – schlage nach unter: „Guillotine“), wurde Anführer der Alliierten europäischen Truppen gegen Napoleon (und im Jahr 1806 auf dem Schlachtfeld von Auerstedt tödlich verwundet),

Manufakturen-Blog: Die Schlossanlage in Fürstenberg - erst Jagdschloss, dann Manufaktur-Heimat (Foto: Martin Specht)

Die Schlossanlage in Fürstenberg – erst Jagdschloss, dann Manufaktur-Heimat (Foto: Martin Specht)

Manufakturen-Blog: "Verputzen" des Niedersachsenpferds - Wahrzeichen des Bundeslandes, oft Staatsgeschenk der Landesregierung (Foto: Wigmar Bressel)

„Verputzen“ des Niedersachsenpferds – Wahrzeichen des Bundeslandes, oft Staatsgeschenk der Landesregierung

Manufakturen-Blog: Von Fürstenberg gibt es Handmalerei und eingebrannte vorgedruckte Dekore (Foto: Wigmar Bressel)

Von Fürstenberg gibt es Handmalerei und eingebrannte vorgedruckte Dekore

Manufakturen-Blog: Der Zweckbau der Manufaktur aus den 1970er Jahren nach einem Brand im Schloss (Foto: Wigmar Bressel)

Der Zweckbau der Manufaktur aus den 1970er Jahren nach einem Brand im Schloss

eine weitere Nachfahrin wurde Königin von Griechenland und Mutter der spanischen Königin Sophia… Wenn man heute über das Bild von Niedersachsen nachdenkt, dann denkt man an Land- und Viehwirtschaft, vielleicht noch Kalibergbau – und Landschaft vom Harz über die Lüneburger Heide bis zur Nordsee; ‚Braunschweig‘ spielt trotz seiner Vergangenheit im Bewusstsein heute kaum eine Rolle.

Im Jahr 2017 wurde in den südwestlichen Vorposten des Landes von der Landesregierung kräftig investiert: Fünf Millionen Euro flossen in die Sanierung des Schlosses und des Museums. Der Betrieb ist sowieso auf dem technisch aktuellen Stand: Am Herdwagenofen werden die Gestelle mit den zu brennenden Halbfertigteilen teilautomatisch in den Brennraum gehoben, in Abkühlräumen können die „Scherben“ genannten Stücke individuell über bis zu sechs Wochen ihre Hitze abgeben, übersichtlich und klar ist jeder Arbeitsschritt (modellieren, verputzen, Glühbrand bei 980 Grad Celsius, lackieren oder bemalen oder dekorieren, abermaliges Brennen bei 1400 Grad Celsius).

Interessante Designer halfen, das Image aus der Zeit des Rokoko-Porzellans herumzureißen: Wilhelm Wagenfeld, Sieger-Design, EOOS, Alfredo Häberli, zuletzt Foster plus Partner. Und mit Sieger begann der Siegeszug der innenvergoldeten Champagner-Porzellanbecher, Solitäre, die unabhängig vom eigenen Geschirr zuhause, gesammelt werden – darauf Motive von Superhelden bis zum T-Rex. Die Sammeltasse von heute.

Trotzdem – auch Fürstenberg hat seinen täglichen Kampf zu kämpfen. „Fürstenberg? Liegt in der Mitte des größten deutschen Autobahnrings! In jede Richtung 60 Kilometer…“, witzelte Stephanie Saalfeld, die langjährige damalige Geschäftsführerin der Porzellanmanufaktur Fürstenberg, gerne. Und Dr. Christian Lechelt, seit dem Jahr 2016 Direktor des dazugehörigen Firmenmuseums im Schloss, antwortete am Sonntag auf die Frage „Wie geht’s?“ mit: „Das Weser-Bergland ist vielen Menschen unbekannt, das erlebe ich auf den Tourismus-Messen – da müssen wir alle hier uns noch kräftig anstrengen.“ Er meint damit die Schlösser und Sehenswürdigkeiten, die sich entlang des niedersächsisch-nordrheinwestfälisch-bremischen Grenzflusses aneinanderreihen; der dazugehörige Weser-Radwanderweg wurde zwar mehrfach zum Schönsten in Deutschland gewählt – aber die Infrastruktur ist mäßig: zu wenig Betten, schlichteste Gastronomie, kaum ergänzender Öffentlicher Nahverkehr. Lechelt sagt: „Das dreht sich im Kreis: Wegen fehlender Betten und Touristen zu wenig Gastro; wegen fehlender Gastro zu wenig Touristen. Wer baut dann für Betten? Wer macht den ersten Schritt?“ Bezeichnenderweise ist auch das schlosseigene Bistro ‚Carl‘ ohne Pächter.

Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte Fürstenberg 100 000 Besucher im Jahr – heute freute man sich über ein Drittel. Immerhin: Allein am Sonntag kamen trotz gesperrter Weserbrücke von und nach Höxter 3100 Gäste, also zehn Prozent eines guten Besucherjahres aufeinmal. War es Verbundenheit, Ausflug, Unterhaltung? Fast egal, für handgefertigtes deutsches Porzellan gilt: im Bewusstsein der Gesellschaft bleiben.

Fotos: Wigmar Bressel, Martin Specht (1)

 

 

 

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Die Messer-Manufaktur Böker: Von der Kastanie zum Rasiermesser

7. Mai 2021, Solingen. Die Geschichte der heutigen Schneidwarenmanufaktur Böker ist eng verbunden mit einer Kastanie, die irgendwann im 17. Jahrhundert auf dem Gelände einer Remscheider Werkzeugschmiede gestanden haben muss. Jedenfalls ließ sich die Familie Böker im Jahr 1674 ein Wappen mit dem Baum und einem darunter fließenden Fluss als Hausmarke für die von ihr hergestellten Werkzeuge eintragen. Im Sommer 2020 fällt mein Blick auf die stilisierte Kastanie im Firmenlogo der Heinrich Böker Baumwerk GmbH, während ich vom Parkplatz zum modernen Firmengebäude in Solingen gehe. Mit mehreren Metern Durchmesser prangt die Darstellung an der Außenfassade.

Darunter steht eine Handvoll Menschen mit Gesichtsmasken vor dem Eingang zum Werksverkauf. Wegen der Coronakrise darf nur jeweils eine begrenzte Zahl ins Innere. Die potenziellen Kunden fassen sich darum in Geduld und freuen sich über das schöne Wetter. Im Hintergrund befindet sich ein altes Backsteingebäude, hier wurde im Jahr 2019 anlässlich des 150jährigen Bestehens der Schneidwarenmanufaktur Böker ein kleines Museum eingerichtet.

Bei meinem Besuch scheint eine hochsommerliche Nachmittagssonne auf das nun wieder leere – aber immer noch historische – Bauwerk. Ebenso wie die Architektur der Firmengebäude hat sich das Logo mit dem Baum im Laufe der Jahrhunderte verändert, – und auch der Standort der Manufaktur hat sich von Remscheid nach Solingen verlagert. Doch um der Symbolik des Baumes gerecht zu werden: Die Verwurzelung in der Region und die damit verbundene Tradition der Schneidwarenherstellung ist geblieben. Allerdings unterlag sie einer Art Evolution, denn wenn die Wurzeln der Bökerschen Manufaktur auch nach wie vor im Bergischen Land liegen, so erstrecken sich deren Zweige doch mittlerweile auf gleich mehrere Kontinente.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verließen die Brüder Hermann und Robert Böker Deutschland. Hermann Böker gründete ein Unternehmen in den USA, Robert Böker zuerst in Kanada und später in Mexiko. Beide taten dies unter dem Namen Böker – beziehungsweise Boker in den USA – und behielten den Baum als Kennzeichen ihrer Produkte. Ein Cousin der beiden, Heinrich Böker, siedelte sich mit seiner Schneidwaren-Manufaktur im Jahr 1869 in Solingen an. Auch er blieb dem Familiennamen Böker und dem Baum-Logo treu.

„Unser Kundenkreis ist global“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow, Geschäftsführerin der Heinrich Böker Baumwerk GmbH. „Heute sind wir weltweit vertreten und können ja auch auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. Die Böker-Familie war schon immer sehr international und Familienmitglieder sind nach Nord-und Südamerika ausgewandert. Dadurch ist schon sehr früh ein internationales Netzwerk entstanden und der Bekanntheitsgrad der Marke ist dadurch in diesen Ländern vorhanden.“

Kirsten Schulz-Dalichow leitet das Unternehmen gemeinsam mit ihrem Bruder Carsten Felix-Dalichow, deren Vater hatte das Unternehmen von der Familie Böker übernommen. Kirsten Schulz-Dalichow ist seit 2003 für die Produktion verantwortlich, ihr Bruder für den kaufmännischen Bereich. Böker hat am Standort Solingen etwa 100 Beschäftigte, unterhält aber auch in den USA eine Niederlassung mit etwa 20 Angestellten, die mit der Distribution der Produkte auf dem nordamerikanischen Markt betraut sind, und betreibt in Argentinien eine Tochterfirma, die hauptsächlich Jagd- und Outdoor-Messer der Marke Arbolito – übersetzt Bäumchen – fertigt. Außerdem vertreibt Böker Schneidwaren und Messer einer ganzen Reihe von Firmen auf dem europäischen Markt. Aktuell gehören etwa 6.000 unterschiedliche Produkte zum Sortiment.

„Kann man bei dieser Unternehmensgröße und Struktur eigentlich noch von einer Manufaktur sprechen?“ frage ich Kirsten Schulz-Dalichow. „Wir leben den Manufaktur-Gedanken absolut“, antwortet sie. „Das ist unsere Philosophie, das ist unser Anspruch, – das ist aber auch das, was der Kunde wünscht. Man sieht es an unseren Produkten. Es ist alles andere als eine Massenproduktion, eine Fabrik oder eine Automation. Bei uns gibt es keine Roboter. Wir begrenzen ja auch unsere Stückzahlen sehr stark. Weil wir viele Sammler als Kunden haben, limitieren wir die Auflagen unserer Produkte.“ Tatsächlich fertigt Böker diverse Messer, die – obwohl zum Gebrauch geeignet – als Sammlerstücke einen hohen Wert haben, darunter solche, deren Klingen aus Damast und historischen Stählen bestehen.  Die Messer der Marke „Böker Manufaktur Solingen“ werden komplett in Handarbeit in der Manufaktur gefertigt, der Fertigungsprozess folgt der mehr als 150jährigen Tradition.

Hat sich für Kirsten Schulz-Dalichow etwas am Verständnis des Begriffes Manufaktur in einer globalisierten Welt verändert? „Ja, schon“, sagt sie. „Wir vermitteln den Manufaktur-Gedanken heute nach außen und führen ihn auch im Firmennamen. Das ist etwas, das sich in den zurückliegenden 20 Jahren verändert hat. Die Produktion ist die gleiche geblieben, aber es hat sich insofern verändert, dass wir es auch zeigen. Deswegen laden wir unsere Kunden regelmäßig zu uns ein. Einmal im Monat findet eine Führung statt. Danach sehen die Kunden die Messer mit anderen Augen und verstehen die Preise besser, wenn sie sehen was dahintersteckt und durch wie viele Hände so ein Messer während der Fertigung läuft.“

Und welche Faktoren könnten in Zukunft den Begriff „Manufaktur“ beeinflussen? „Wir merken heute schon, dass das Thema Nachhaltigkeit mehr Gewicht bekommt“, so Kirsten Schulz-Dalichow. „Das greifen wir natürlich gerne auf. Damit eben keine Wegwerfkultur entsteht und die entsprechenden Materialien verwendet werden. Auch was die Verpackung betrifft.“

Das Thema Nachhaltigkeit bringt uns zu dem – meiner Ansicht nach – spannendsten Produkt im Sortiment Bökers: dem Rasiermesser. Der Gebrauch eines handgefertigten Rasiermessers mit quasi unbegrenzter Lebensdauer entspricht selbstverständlich eher der Idee der Nachhaltigkeit, als der eines Einwegrasierapparates aus Kunststoff oder eines Elektrogerätes. Doch die Herstellung eines Rasiermessers ist mit das Aufwendigste, das es in der Schneidwarenherstellung gibt. Der Schliff der Klinge gilt unter Experten als extrem schwierig und die Fähigkeit der Solinger Messerschleifer, diese Klingen in exzellenter Qualität schleifen zu können, hat im 19.Jahrhundert wesentlich zum Aufstieg und dem Weltruf Solingens beigetragen.

Manufakturen-Blog: Das historische, riesige Werk von Böker in Solingen im Jahr 1914 (Foto: Böker)

Das historische, riesige Werk von Böker in Solingen im Jahr 1914

Manufakturen-Blog: Kirsten Schulz-Dalichow und Carsten Felix-Dalichow haben die Messerschmiede Böker von ihren Eltern übernommen und führen sie gemeinsam (Foto: Böker)

Kirsten Schulz-Dalichow und Carsten Felix-Dalichow haben die Messerschmiede Böker von ihren Eltern übernommen und führen sie gemeinsam

Manufakturen-Blog: Beim Ätzen erhält die Rasierklinge ihre Aufschrift (Foto: Martin Specht)

Beim Ätzen erhält die Rasierklinge ihre Aufschrift

Manufakturen-Blog: Die Hohlklinge eines Rasiermessers muss hart und elastisch zugleich sein - Test am Daumenangel (Foto: Martin Specht)

Die Hohlklinge eines Rasiermessers muss hart und elastisch zugleich sein – Test am Daumenangel

Die Klinge eines Rasiermessers muss zum Einen extrem scharf – also dünn –  sein, gleichzeitig aber auch biegsam, damit sie sich der Hautoberfläche anpasst. Wäre sie nur dünn, wäre die Klinge instabil und ließe sich nicht führen. Die erforderliche Stabilität wird mittels des sogenannten Hohlschliffs erzielt. Der Rücken der Klinge bleibt in einer gewissen Breite erhalten, während diese zur Schneide hin hohl ausgeschliffen wird. Zumindest wenn man es einfach ausdrückt. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten des Hohlschliffs: derb, halbhohl, dreiviertelhohl, vollhohl und extrahohl. Mit Ausnahme der derben Schleifvariante wird die Klinge so geschliffen, das zwei aneinander liegende Hohlungen entstehen, die durch einen leicht erhabenen Wall, der horizontal über die Länge der Klinge verläuft, voneinander getrennt sind. All dies muss zwingend von Hand gemacht werden, – und zwar von einer Hand, die weiß was sie tut und über die notwendige Erfahrung verfügt.

„Böker war schon vor 100 Jahren für Rasiermesser sehr guter Qualität bekannt“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow, betont aber auch: „Das Schleifen von Rasiermesserklingen kann längst nicht jeder. Man braucht sehr, sehr viel Erfahrung bis man das tatsächlich so beherrscht, dass wir auch damit zufrieden sind.“ Da nach dem Zweiten Weltkrieg die Produktion von Rasiermessern in ganz Europa mit dem Aufkommen von Einwegrasierklingen zunehmend reduziert, und in vielen Betrieben schließlich ganz eingestellt wurde, ließen sich im Zuge der Renaissance klassischer Rasiermesser jedoch nicht so ohne weiteres Messerschleifer finden, die noch über das erforderliche Wissen verfügten. Kirsten Schulz-Dalichow berichtet von der Wiederaufnahme der Produktion: „Wir haben vor zehn Jahren wieder mit der Rasiermesser-Produktion angefangen. Nach dem Krieg – nachdem Wilkinson und Gilette auf den Markt gekommen sind – hat Böker keine Rasiermesser mehr gefertigt. Das war nach dieser Entwicklung erstmal uninteressant. Doch vor etwa zehn Jahren sind wir immer wieder darauf angesprochen worden. Es gab also noch Kunden, und da haben wir uns überlegt, dass wir in diesen Markt rein müssten. Wir haben dann tatsächlich bei Null angefangen, da wir nichts mehr hatten, auf das wir zurückgreifen konnten. Wir haben eine alte Schleifmaschine speziell für den Hohlschliff bei der Rasiermesserklingen-Fertigung im Industriemuseum gekauft und aufbereitet. Wir hatten auch das Glück, dass in Solingen das entsprechende Knowhow noch immer vorhanden ist. Es gibt alte Schleifer, die dieses Wissen noch besitzen und die haben dann unsere jungen Beschäftigten ausgebildet.“

Diese neue Generation von Messerschleifern ist hochmotiviert und froh, einen Zugang zu den Fähigkeiten zu haben, die den Ruf Solingens einst begründeten. Dass sie auch selbst diesem Ruf gerecht werden, zeigt, dass im Jahr 2018 der beste Ausbildungsabsolvent im Bereich ‚Fachbereich Metalltechnik-Fachbereich Zerspanungstechnik‘ aus dem Hause Böker stammte. In einfachen Worten: Es handelt sich um Deutschlands besten Handschleifer. Heute bereitet sich der junge Mann in der Schneidwarenmanufaktur Böker auf seine Meisterprüfung vor.

„Auch unsere anderen Mitarbeiter sind Weltklasse“, so die Geschäftsführerin. „Mehr als zwei Drittel unserer Mitarbeiter sind auch von uns ausgebildet worden. Wir verstehen uns als Familie.“

Anders als in vielen anderen Bereichen des Handwerks, hat die Manufaktur kein Problem damit, ausbildungswilligen und ausreichend motivierten Nachwuchs zu finden. „Viele junge Leute, die das Messer-Virus in sich tragen, die ziehen nach Solingen, um sich von uns ausbilden zu lassen“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow.

Doch zurück zum Rasiermesser: „Wir haben neues Wissen mit dem alten Wissen verbunden und so die Fähigkeiten und Voraussetzungen für die Rasiermesserproduktion geschaffen. Die wächst von Jahr zu Jahr, und wir könnten sogar mehr verkaufen, wenn wir mehr produzieren würden.“

Ein boomender Markt also – und das mit einem, im Grunde genommen historischen Werkzeug, das bei richtiger Pflege Generationen überdauern kann. Wie lässt sich dies unter einen Hut bringen? Marketingleiter Thomas Wurth bemerkt dazu: „Die Wettbewerbsintensität ist in der Rasiermesserherstellung nicht gegeben, weil die Fertigung so anspruchsvoll ist. Es gibt weltweit nur eine Handvoll Unternehmen, die diese geschmiedeten Rasiermesser überhaupt produzieren können. Zumindest in guter Qualität. In den letzten Jahren hat die Nachfrage unsere Produktionskapazitäten deutlich überschritten.“ Um diese Nachfrage auch weiterhin am Leben zu erhalten, setzt die Manufaktur auf eine Strategie der Verschmelzung von Tradition und Moderne. Zum Einen finden sich in den Archiven von Böker noch die historischen Designs der seinerzeit gefertigten Rasiermesser, auf die in der Ideenfindung zurückgegriffen werden kann, zum Anderen werden aber auch bewusst spektakuläre Innovationen auf den Markt gebracht. Man möchte mit den Rasiermessern am Puls der Zeit bleiben. „Barbershops sprießen wie Pilze aus dem Boden“, sagt Thomas Wurth. „Jedes Jahr haben wir haben wir zwei Kooperationen mit Barbieren, mit denen wir gemeinsam Messer entwickeln. Die sind limitiert auf jeweils 99 Stück. Das kommt super an!“  Außerdem, so der Marketingleiter: „Das Thema klassische Nassrasur erlebt auch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit einen Boom.“

Der Bogen führt von der Tradition über die Nachhaltigkeit zu den Erfordernissen marktspezifischer Innovation und einer Gestaltung, die auch moderne Menschen anzusprechen vermag. Beim Rasiermesser, dessen Form im Wesentlichen durch Funktion und Handhabung vorgegeben ist, sind spannende Innovationen nicht unbedingt einfach zu erfinden. Bei den modernen Designs arbeitet Böker darum mit außergewöhnlichen Griffmaterialien, wie zum Beispiel Abalone oder Carbon. Die Rasiermesserklingen werden mit aufwendigen Ätzungen oder Gravuren versehen, einige sind aus Damast gefertigt. Hohe Handwerkskunst also. Um dies auch in Zusammenhang mit der Konzeption einer modernen Schneidwarenmanufaktur zu setzen, hat Böker eigens ein Rasiermesser „Manufaktur“ kreiert. Auf dem Griff, dessen Material dem historischen Schildpatt nachempfunden ist, ist der Schriftzug „Manufaktur“ in Neusilber intarsiert. „Wir wollten damit zeigen, dass die Rasiermesserfertigung bei uns sehr authentisch ist“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow. „Jede Klinge wird von Anfang bis Ende von Hand geschliffen. Wie auch vor 100 Jahren. Darauf wollten wir noch einmal mit dem Produkt, das die Bezeichnung ’Manufaktur’ trägt, aufmerksam machen.“ Interessant, dass nach mehr als 150jähriger Tradition eines der ältesten –  in der Herstellung mit am Aufwendigsten – Erzeugnisse der Manufaktur heute wieder hochaktuell ist.

Fotos: Martin Specht, Böker

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