Die Leinenweberei Seegers & Sohn – vom Aufbruch in die Zukunft
1. November 2022, Steinhude. Eigentlich sollten Manufakturen ‚resilient‘ gegen globale Krisen sein: Sie produzieren vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt, beliefern genauso Händler wie Endverbraucher vorrangig auf regionalen und nationalen Märkten, reparieren die Produkte, die nach Jahren defekt oder beschädigt zurück ins Werk kommen, können meistens noch Ur-Formen aus ihrer Gründungszeit nachfertigen. Sie produzieren ethisch unter Einbeziehung ihrer lokalen Anwohner, den Auflagen der Gewerbeaufsicht und zahlen ortsübliche, dem jeweiligen Landes- oder EU-Recht unterliegende Gehälter. Klar, sie sind nicht gegen Energiepreis-Entwicklungen durch Kriege wie in der Ukraine gefeit und müssen sich auch den Notwendigkeiten steigender Umwelt- und Gesundheitsschutz-Auflagen stellen… Gerade bedrücken die schlechten Nachrichten aus der sächsischen Leinenweberei Hoffmann in Neukirch/Lausitz – da flattert über Instagram die Einladung zu den ‚Tagen der offenen Tür‘ bei Hoffmanns Mitbewerber, der Leinenweberei Seegers & Sohn aus Steinhude am gleichnamigen „Meer“, aufs Smartphone. Eine willkommene Einladung, nachzuschauen, was die älteste deutsche Leinenweberei (gegründet im Jahr 1765) anders macht…
Also Sonntagsausfahrt ans Steinhuder Meer: Die Bleichenstraße herunter, leuchtet schon der riesige Schriftzug ‚Leinenfabrik‘ den Besuchern entgegen. Vor einer abgewaschenen und neuverputzten Spät-Gründerzeit-Industriefassade aus dem Jahr 1912 erwarten uns 50 Außengastronomie-Sitzplätze – rappelvoll, passend zu den 100 Fahrrädern und weiteren 50 Autos, die auf dem Firmenparkplatz stehen. Das Unternehmen gönnt sich einen eigenen Museumsteil (so erreicht man die Sonntagsöffnung und die Touristen: „Frühstück ab 10 Uhr“), in dem auch ein Teil des Cafés untergebracht ist. Dabei ist Seegers kein Museum – sondern ein Produktionsbetrieb, der seine Nische im Markt perfekt bedient: 140 Meter Leinen, Halbleinen und Baumwolle für Handtücher, Bettwäsche, Tischdecken, Servietten, Brotbeutel und und und werden jeden Werktag gewebt. Die Kunden: Berühmte Hotels, die Deutschen Botschaften, das Kanzleramt – aber vor allem unendlich viele Menschen, die mit Tischkultur leben, die auf die halbfesten und durch den Leinenanteil besonders saugstarken Geschirrhandtücher stehen, mit denen sich Gläser so hervorragend polieren lassen… weg ist der Kalkrand aus der Geschirrspülmaschine!
Dann der Werksrundgang durch die Heiligtümer: der Maschinensaal mit den 16 Jacquard-Webstühlen, das Lochkarten-Archiv mit den mehr als 5000 Papier-Lochkarten, über deren Abtastung sich die Webstühle das Muster für den zu webenden Stoff ziehen, die Garnrollen mit ihren bis zu 30 Kilometer langen Fäden, die Näherei mit ihren acht Arbeitsplätzen, Stofflager, Garnlager. Uns führt der 34jährige Weber Sascha Pleger, der seit elf Jahren im Unternehmen arbeitet und heute die Produktion verantwortet. Geduldig erklärt er, wie ein Webstuhl arbeitet, funktioniert, „tickt“. Er erzählt vom tagelangen Umspannen, wenn auf dem Webstuhl ein anderes Muster gewebt werden soll, denn die Stühle verfügen über 3600 bis 9000 Kettfäden – das sind die Längsfäden, durch die der Schussfaden (das ist der mit der Farbe) hindurchgeschossen wird und durch dessen Steuerung (auf und ab) über die Lochkarte das Muster entsteht; jeder Einzelne muss durch den Stuhl gezogen und verknotet werden. Geduld ist gefragt – und man darf nicht durcheinanderkommen… Sind die Webstühle nicht schon zu alt für eine moderne Fertigung? Pleger stellt die Gegenfrage: „Kann ich einen modernen, computergesteuerten Hochleistungswebstuhl selbst reparieren? Diese mechanischen Webstühle kann ich auseinanderbauen und jedes einzelne Bauteil ersetzen – bei den neuen Maschinen muss ich immer auf den Mechaniker warten.“ Und häufig wird es dann ein Programmierer sein, der an die Software heran muss…
Gehörschutz ist in der Produktion Pflicht. Pleger warnt vor – und schaltet einen Webstuhl ein. Dieser rattert sofort los, erzeugt 108 Dezibel. Für einen Moment geht das. Man sieht zu, wie langsam ein klassisches Muster für Geschirrtücher entsteht und sich auf eine Rolle wickelt. Kleine Reiter aus Blech bewegen sich auf und ab – für jeden Kettfaden einer. Reißt ein Faden, dann merken das auch diese Webstühle schon, und bleiben sofort stehen – denn das war eines der ersten Probleme, die gelöst werden mussten. Das Muster darf keine Unregelmäßigkeiten haben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch sieben Leinenwebereien in Steinhude, das bereits im Jahr 1728 das Weber-Zunftrecht verliehen bekam. Das Steinhuder Meer bedeutete gute Wasserversorgung – eine Grundvoraussetzung für den Anbau von Flachs, der vor der Baumwolle das europäische Textil war. „Mein Großvater hat sich in den 1950er Jahren gegen die damals sehr populäre Verarbeitung von Polyester und anderen Kunstfasern entschieden“, erzählt Adrian Seegers, heute geschäftsführender Gesellschafter in neunter Generation, auf der Rückseite der Speisekarte des hauseigenen Cafés; sein Vorfahr, der Weber Johann Dietrich Jacob Seegers, hatte das Unternehmen damals als ‚Leinen- und Tischzeugweberei Seegers‘ gegründet. Jedenfalls führen die Seegers und ihre Mitarbeiter auf diese großväterliche ablehnende Haltung gegenüber Plastiktischdecke & Co. ihr Überleben zurück. Als einziger Weberei in Steinhude. Hotels und Gastronomen sei Dank.
Inzwischen hat sich die Haltung in bestimmten Kreisen geändert: Wer heute in die Gastronomie liefern will, bezieht sein Garn besser aus der EU – denn der Nachweis der Unbedenklichkeit bezüglich Pestiziden muss sein. Seegers & Sohn verwebt nur Oeko-Tex-zertifizierte Garne. Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen sind dem Unternehmen ein Anliegen. Es soll ja alles stimmig sein.
Wenn man durch den Betrieb geleitet wurde, landet man im Werksverkauf in der alten Bleichhalle und auf dem alten Garnboden. Logisch. Wer eben von den Produkten überzeugt wurde, der soll ja auch kaufen können: Geschirrtücher gibt es ab sechs Euro, Reinleinen-Bettwäsche ab 186,00 Euro pro Garnitur. Alles, wenig überraschend, auch in einem tadellos funktionierenden Online-Shop. Man kann nur staunen, wie richtig solch ein kleiner Betrieb (mit 34 Mitarbeitern) dort in Steinhude alles macht!
Fotos: Wigmar Bressel
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