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Eckard Christiani: „Ist die Art und Weise, wie wir leben, die richtige?“

26. August 2022, Berlin. Er glaubt an das Nachhaltigkeits-Thema Manufaktur. Entwickelte eine Konzeption für eine eigene Manufakturen-Zeitschrift, fertigte einen Prototypen, reiste auf der Suche nach Partnern durch die Republik – aber der Mut der Manufakteure war nicht da. Jetzt ist Eckard Christiani von der Designagentur Quintessense mit seinem neuen Projekt unterwegs: der Bücherreihe ‚Morgen – wie wir leben wollen‘. Bücher mit den Schwerpunkten Ernährung, Wohnen, Gesundheit, Medien, Mobilität, Digitalisierung, in denen er eine Vielzahl von Interviews abdruckt, die er unter der Überschrift Nachhaltigkeit und Zukunft geführt hat – mit Fachleuten, Politikern und Prominenten. Und einem Jeden von uns steht die Möglichkeit offen, diese Bücher zu kaufen und die Ideen und das Wissen verbreiten zu helfen. Zeit für ein Gespräch.

Lieber Herr Christiani, wie kam es denn zu der Bücherreihe ‚morgen‘?

Schon als Student wollte ich Bücher machen. Es war immer mein Ziel, Bücher zu gestalten und herauszubringen, die komplexe Inhalte auf attraktive Art und Weise transportieren. Ich wollte nichts weniger, als das Buch neu erfinden. (lacht)

Als dann die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 Fahrt aufnahm, wurden viele Kunden-Projekte auf Eis gelegt, und ich hatte plötzlich enorm viel Zeit! Da dachte ich mir: Wenn Bücher machen, warum nicht jetzt?

Im Urlaub in Österreich kam mir die Idee zur Buchreihe morgen – wie wir leben wollen. Durch die Corona-Pandemie begannen alle nachzudenken, das Leben änderte seine Richtung und alles wurde plötzlich auf den Prüfstand gestellt: Ist die Art und Weise, wie wir leben, die richtige? So habe ich mir für die erste Staffel der Reihe zwölf Themen überlegt, die für uns gesellschaftlich wichtig sind und über die ich mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern sprechen und nachdenken wollte.

Inzwischen sind vier Bücher erschienen.

Ja. Zu den Themen Ernährung, Medien, das weite Feld Umwelt und Wohnen. Zur Buchmesse in Frankfurt erscheint Band 5 zum Thema Gesundheit. Dann folgen Mobilität, Gartenbau und Landwirtschaft sowie Digitalisierung. Ich bin sehr neugierig unterwegs! Aber ich kann mir das natürlich nicht alles selbst ausdenken; also habe ich mir für jedes Thema, jedes Buch zwölf Expertinnen und Experten gesucht: Menschen, die dazu etwas zu sagen haben – auch mal Prominente oder Politikerinnen und Politiker. Diese Gespräche sind für mich der eigentliche Kick, der eigentliche Antrieb, diese Bücher zu machen. Ich habe bislang auf diesem Weg mit 65 Menschen gesprochen, die richtig etwas zu erzählen hatten und die ich sonst nicht so ohne weiteres kennengelernt hätte. Es ist also auch ein bisschen egoistisch.

Nein, da würde ich widersprechen – das ist nicht egoistisch. Das ist doch wie mit meinem Manufakturen-Blog: Auch sie stellen ja ihre Ergebnisse der Allgemeinheit zur Verfügung und zur Diskussion. Es ist ja kein Gesetz, dass Arbeit nicht weiterbilden oder spaßmachen darf. Irgendetwas stößt man auch immer an oder bewegt etwas weiter – auch wenn man es nur in seltenen Fällen erfährt.

Es gab unglaublich spannende Gespräche – auch mit Prominenten wie Schauspieler Hannes Jaenicke, den ich zwischen seinen Krimi-Drehs in Amsterdam während seines Frühstücks interviewen durfte. Oder mit Renate Künast im Bundestag, mit „Mr. Media“ Thomas Koch oder mit Barbara Becker. Aber natürlich waren auch die Gespräche mit weniger bekannten Koryphäen wie Professor Glaubrecht aus Hamburg hochinteressant. Er hat kürzlich ein Buch mit sage und schreibe tausend Seiten herausgebracht: „Das Ende der Evolution“. Da geht es um das drängende Problem des Artensterbens. Wirklich lesenswert.

Manufakturen-Blog: die Bücher der morgen-Reihe von Eckard Christiani (Foto: Verlag)

…die Bücher der morgen-Reihe

Fassungslos ließ mich ein Gespräch mit Moritz Riesewieck für das Medien-Buch zurück. Wir sprachen darüber, was Menschen alles anstellen, um unsterblich zu werden – oder was, um ihre Liebsten weiterleben zu lassen. Das Thema: „Unsere digitale Seele“. Was wird aus unseren Daten nach unserem Ableben?

Ich habe für mich eine Nachlassverwalterin bestellt. Ich hatte auch überlegt, ob ich für meine Eltern – im Jahr 2020 verstorben – eine Erinnerungs-Homepage einrichte; aber hätten die das gewollt?

Es gibt in den USA einen Mann, der seinen erkrankten Vater immer und immer wieder interviewt und nach dessen Tod eine virtuelle Person – den Dad-Bot – programmiert hat, mit der er und seine Mutter sich seitdem immer mal wieder austauschen können.

Das gibt es als Projekt auch mit den letzten noch lebenden Holocaust-Überlebenden – das ist für solche Zwecke des eindringlichen Erlebens bestimmt noch spannender, als nur Video-Interviews. Andererseits tritt uns so via Avatar jetzt auch ABBA entgegen…

Trauerarbeit ist wichtig. Und sie sollte nicht verhindert werden, weil man ständig im virtuellen Kontakt verharrt.

Fünfzehn Uhr ist sonntags immer Kaffee mit Papa.

Genau. Ich weiß es nicht.

War es schwierig an die Gesprächsteilnehmer heranzukommen?

Nein. Es ist mir nur zweimal passiert, dass potentielle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nach der Auflage des Buchreihe gefragt haben: „Wie hoch? 3000 Stück? Nein, dafür habe ich dann doch keine Zeit.“ – Da denke ich: Die haben schon ihre Bühne – und brauchen meine nicht.

Die allermeisten machen mit. Manches Mal ist es schwierig einen Termin zu finden. Aber das ist ja auch normal. Wer etwas zu sagen hat, wird nicht nur von mir gehört.

Wie bringt man denn eine Auflage von 3000 Stück unter die Menschen?

Zunächst ist die Buchreihe als Corporate Publishing-Projekt für die Buchbinderei Integralis in Hannover in Leben gerufen worden. Integralis will damit zeigen, welch tolle Bücher sie dort produzieren können. Eine weitere Auflage geht direkt in den Buchhandel. Das heißt, man kann die Bücher ganz normal in der Buchhandlung bestellen. Oder direkt beim Verlag.

Man kann aber auch als Unternehmen diese Bücher für sich entdecken und sagen: Ich möchte mich auch auf diesen Zukunftsfeldern präsentieren. Und: Ich lasse die Reihe von Herrn Christiani für meine Unternehmung individualisieren – an mein Corporate Design anpassen – und verschenke sie an meine Kunden, um mit diesen in einen Dialog zu treten. Man kann sein eigenes Cover bekommen, sein eigenes Vorwort oder sogar ein eigenes Kapitel. Hochwertigkeit spielt in der Produktion eine besondere Rolle.

Deswegen sind die Bücher auch so schön verarbeitet.

Genau. Aber gleichzeitig ist es ein Commitment und Statement, wozu sich solch ein Unternehmen bekennt und was es umtreibt. Wie gehen wir in die Zukunft? Ein einfaches ‚weiter so‘ – wohl eher nicht.

Sind die Bücher radikal genug? Oder wollen sie garnicht radikal sein?

Es sind keine Kampfschriften. Es geht vielmehr um Fragen und Zukunftsideen, die ich interessant finde und über die ich mir Gedanken machen will.

Im Gesundheitsbuch geht es auch einfach um Wissensvermittlung: Wo stehen wir heute? Wo wollen wir hin? Oder: Wo geht es mit der Wissenschaft hin? Im Gespräch mit der Herzchirurgin Dilek Gürsoy rede ich über das Verpflanzen von Kunstherzen, mit Alexandra Renkawitz über die Frage, wie wir unser Mikrobiom im Darm gesund halten oder mit Professorin Claudia Traidl-Hoffmann über die körperlichen Auswirkungen der Klimaveränderungen. So bekommen wir eine Vorstellung von der Zukunft und ihren vermuteten Notwendigkeiten.

Wichtigste Erkenntnis aus ihrem Gesundheitsfragen-Buch?

Es gibt keine Geheimrezepte für ein langes gesundes Leben. Aber morgens eine frischgepresste halbe Zitrone in warmem oder kaltem Wasser in kleinen Schlucken zu trinken – das empfehlen alle. (lacht)

Fotos: Martin Specht, Verlag

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Wigmar Bressel: „Manufakturen spielen eine wirtschaftskulturelle Rolle“

26. Januar 2021, Bremen. Es ist Anfang Dezember 2020. Wigmar Bressel wartet auf die Abholung eines Dutzend Kartons mit Dokumenten. Zehn Jahre lang – seit Juni 2010 bis Oktober 2020 – war der Bremer Unternehmer Vorsitzender des Verbandes Deutsche Manufakturen e. V. In dieser Zeit diente ihm sein Büro in den Räumen der Firma Koch & Bergfeld auch als Geschäftsstelle. Jetzt erfolgt die Übergabe an Bressels Nachfolgerin. Die Unterlagen der vergangenen zehn Jahre hat der scheidende Vorsitzende bereits gesichtet, nun ist alles verpackt und soll auf den Weg zu ihr. Während wir am Telefon darüber sprechen, sitze ich an meinem Schreibtisch in Medellín. Auf einer Seite steht die Stele, die ein befreundeter Künstler geschaffen hat, auf der anderen eine Keramik der indigenen Gruppe der Shipibo aus dem Amazonasgebiet.

Beim Anblick der beiden Gegenstände denke ich, dass auch in Südamerika das Thema „Manufaktur“ spürbar und relevant ist.

Bei der Shipibo-Keramik handelt es sich um ein Gebrauchsobjekt, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen so entstehen konnte. Der Fertigungsprozess der indigenen Amazonasbewohner lässt sich natürlich nicht – allein schon wegen der gänzlich anderen ökonomischen Voraussetzungen –  mit dem einer Manufaktur in Solingen oder dem Bayrischen Wald vergleichen. Doch auch er ist einzigartig und unterscheidet sich fundamental von der industriellen Herstellung in einer globalisierten Welt. Es zeichnet Bressel aus, dass er in solchen Zusammenhängen zuhause ist. Obwohl er bestens mit den technischen Details der Manufakturprodukte vertraut ist, hat sich doch in vielen Gesprächen gezeigt, dass sich Bressels Gedanken auch auf einer intellektuellen Ebene bewegen. Da geht es mehr um das Thema „Manufaktur“ an sich und dessen mögliche Relevanz im 21. Jahrhundert. Nicht zuletzt aus diesem Grund zieht Wigmar Bressel in meinem Interview ein Resümée der vergangenen zehn Jahre und wagt einen Ausblick auf die kommenden.


„Nicht das Schaufenstermarketing, sondern einen Trend befördern“

Martin Specht: Du bist einer der Gründer der ‚Deutschen Manufakturen‘, – habt ihr von Beginn an eine konkrete Zielsetzung verfolgt?

Wigmar Bressel: In der Zeit der Jahrtausendwende begannen ernsthafte Mittelständler mit zählbaren Beschäftigtenzahlen – jeder mit zehn bis 150 Mitarbeitern – damit, den Manufaktur-Begriff aufzugreifen und ihn auf sich anzuwenden. Damit wollten sie sich von der Industrie abheben, – aber ebenso vom Kunsthandwerker in seiner Werkstatt. Damals lag es in der Luft, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Dann kamen Verkaufsmessen für den Endverbraucher auf. Da sind sich viele der späteren Verbandsmitglieder begegnet: Koch & Bergfeld, Mühle Rasierpinsel, die Sächsische Porzellanmanufaktur Dresden, die Porzellanmanufaktur Meissen, KPM, die Hemdenmanufaktur Campe & Ohff, Messerhersteller wie Gehring, Vickermann und Stoya, Puls Maßanzüge. Bei diesen Aufeinandertreffen entstand die Idee, dass man den Manufaktur-Begriff etwas fester klopfen müsste, damit er sich besser erklären aber auch nutzen lässt. Daraus folgerte irgendwann, dass wir dazu etwas gründen müssten.

Damit war ein gemeinsames Ziel gewissermaßen schon definiert…

Ja, genau, es sollte eine Plattform geschaffen werden, auf der der Manufaktur-Begriff für unsere Zeit entwickelt wird. Wichtig war aber auch, dass es für das einzelne Mitglied nicht zu viel kosten würde. Wir waren ja schon alle in den verschiedenen Standesorganisationen, wie etwa dem Schneidwarenverband, dem Lederwarenverband und wie sie alle heißen. 2010 gründeten wir im Schütting – der Handelskammer – in Bremen den Verband „Deutsche Manufakturen“ als eingetragenen Verein. Bremens Wirtschaftssenator Martin Günthner (SPD) hielt die politische Auftaktrede, der Designer und Intellektuelle Heinz-Jürgen Gerdes sprach über „Was Zukunft hat“ – es war ein würdiger Start in schönem Rahmen.

Es hat dann noch sechs Jahre gedauert, bis die Definition des Manufaktur-Begriffs feststand. Warum war das so aufwendig?

Tatsächlich waren Jahre der ehrenamtlichen Diskussion notwendig, bis wir eine Definition hatten, von der alle sagten: ‚Darunter würde ich mich versammeln‘. Dazu mussten wir natürlich zuerst die Kriterien festlegen. Man würde der Bandbreite der Manufakturen nicht gerecht werden, wenn man zum Beispiel sagt: ‚Nur wer über den Einzelhandel verkauft, der darf bei uns Mitglied werden.‘ Doch man muss sich als Manufaktur ganz klar von den Dienstleistern absetzen. Man hat ja eine eigene Produktpalette samt Produktentwicklung. Und dadurch eben auch ein ganz anderes Risiko. Das ist für eine Manufaktur insgesamt eine weitaus größere Aufgabe, als lediglich auf einen Kundenauftrag zu reagieren!

Die Definition ist heute auf einer eigenen Internetseite (www.manufaktur-definition.de) für jedermann einsehbar. Wie fielen denn bislang die Reaktionen darauf aus?

Bei der Definition bin ich nach wie vor sehr stolz darauf, dass sich bis heute mehr Betriebe dazu bekannt haben, als lediglich die, die auch Mitglied im Verband sind. Man muss anderen eben Anknüpfungspunkte bieten. Das ist sehr wichtig, damit von außen Kreativität in den Verband hereingetragen wird. Und wir sind im Lauf der letzten zehn Jahre auch stetig gewachsen. Heute hat der Verband 34 Mitglieder.

Der Manufaktur-Begriff erlebte in den vergangenen Jahren eine Art Renaissance, – hat sich durch die Arbeit des Verbandes etwas an der öffentlichen Wahrnehmung geändert?

Ich glaube schon. Wenn zuletzt ein Journalist bei mir anrief und eine Information zu einem Thema haben wollte, das mit den Manufakturen zu tun hat, stellte ich fest, dass es praktisch niemanden mehr gibt, der nicht schon vorher im Internet die Definition gelesen hat. Es war gut, dass wir heute etwas haben, das in einem mehrjährigen Diskussionsprozess abgeklopft wurde und tatsächlich tragfähig ist. Die Definition wurde im Wesentlichen von Hartmut Gehring und mir geprägt. Ich glaube, darauf können wir wirklich stolz sein. Menschen, die ihren Mini-Betrieb oder ihr Kunsthandwerk Manufaktur nennen möchten, müssten jetzt eigentlich wissen, dass der Begriff auf sie nicht zutrifft. Es ist Quatsch, wenn der Fliesenleger sich Fliesenmanufaktur nennt – denn das kann nur ein Fliesenhersteller sein, der im manufakturellen Sinne produziert. Da muss man nach der Definition auch nicht drüber verhandeln – weil es keinen Sinn macht.

Gibt es sonst noch etwas, von dem du sagen würdest: ‚Das haben wir in den zehn Jahren geschafft!‘?

Ein weiterer wichtiger Schritt war die Entwicklung unseres Logos sowie das ‚Deutsche Manufakturen-Siegel‘, das den Kunden Orientierung gibt. Das hat wiederum einige Zeit gedauert, weil viele Überlegungen zu berücksichtigen waren. Aus der Beschäftigung mit dem Siegel entstand die Idee, mit dem ‚Manufakturprodukt des Jahres‘ einen Wettbewerb auf die Beine zu stellen.

Das Ziel dabei war, sich mit den Manufakturprodukten möglichst abstrakt zu beschäftigen. Letzen Endes sind solche Dinge – die Preise, die Laudatien – ja eine Fiktion, aber wir brauchen diese Fiktion, – Dinge an die wir glauben und für die wir bereit sind, Zeit aufzubringen, weil sie uns inhaltlich weiterbringen und weil sie uns verbinden.

Und dann ist da noch eine kleine Anzahl von Publikationen, die in unserem eigenen Verbands-Verlag erschienen sind – ‚Wer schreibt, bleibt‘, sagt ein altes Sprichwort. Auch damit haben wir etwas für die Zukunft getan.

Mich persönlich hat die intensive Beschäftigung mit dem Thema zur Gründung des Manufakturen-Blogs animiert – rund 100 Artikel, Berichte und Meldungen sind in ihm bisher schon erschienen – sie werden jeden Tag gelesen, manche wurden bereits an die 2000 Mal abgerufen, andere natürlich auch nur 150 Mal, so, wie es die Leute interessiert und wonach sie suchen. Daraus entstanden Social-Media-Aktivitäten, teilweise mit sehr interessanten Abonnenten aus Medien und eben der Manufakturen-Branche.

Dazu passen auch die sogenannten Zukunftsforen, die einmal im Jahr stattfinden…

Die Zukunftsforen sind eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es war klar, dass man sich treffen muss, um die Inhalte weiterzudiskutieren. Mir war ganz wichtig, dass wir eine Vorwärtsgewandtheit ausdrücken. Deswegen auch der Begriff ‚Zukunftsforum‘.

Auf dem Zukunftsforum 2019 hattest du angekündigt, bei der kommenden Mitgliederversammlung nicht mehr für den Vorsitz kandidieren zu wollen. Warum?

Ich bin der Meinung, dass es für so eine Organisation wie den Verband ‚Deutsche Manufakturen‘ wichtig ist, dass nach einer gewissen Zeit ein neuer Blick ermöglicht wird. Mein Vater war Vorsitzender verschiedener Vereine. Zum Teil über 30 Jahre lang. Da konnte ich beobachten, dass es Mitglieder gab, die im Laufe der Zeit unzufrieden wurden, weil – zum Beispiel – Veranstaltungen immer auf die gleiche Art gemacht wurden. Das habe ich mir früh abgeguckt und gesagt, dass es irgendwann an der Zeit ist, dass jemand anderes den Vorsitz übernimmt, und ich hatte mir eine Stellvertreterin aufgebaut. Brigitte Federhofer-Mümmler wurde jetzt im Oktober dementsprechend einstimmig gewählt. Ich finde es sehr gut, dass jetzt eine Frau an der Spitze eines Wirtschaftsverbandes steht. Das gibt es bislang nicht so oft.

Wird es die Zukunftsforen auch weiterhin geben?

Das kann ich natürlich nicht sagen. Es obliegt dem neuen Vorstand. Angekündigt wurde es erstmal für das Jahr 2021, – in der Hoffnung, dass es trotz Corona auch möglich ist. Aber ich wüsste auch nicht, was die Alternative wäre. Man muss sich verbandsintern mindestens einmal im Jahr sehen und für die innere Abstimmung die anstehenden Fragestellungen diskutieren.

Wie siehst du die nächsten zehn – oder fünf – Jahre für den Verband?

Ich denke, dass der Verband Allianzen mit anderen Bewegungen schließen sollte, die in die gleiche Richtung streben. Wir sollten den Mut haben, auch politisch zu werden. Politisch sein, bedeutet, dass wir eben auch bereit sind auszusprechen: ‚Wir sind globalisierungskritisch‘. Denn das ist ja genau das, was die Betriebe ausmacht, die alles selbst herstellen. Ich bin davon überzeugt, dass dies die Fragestellung für die Zukunft ist. Wenn man darauf nicht eingeht, wird er sich möglicherweise nicht weiterentwickeln. Man muss jetzt den Mut haben, sich einer größeren Sache zu stellen. Viele Lebensmittelmanufakturen sind bei ‚slow food‚, weil es ihnen sinnvoll erscheint. Wenn solche Konglomerate schon da sind, kann man sich ihnen ja annähern und zusammenarbeiten, vielleicht Allianzen schließen – im Sinne des Gemeinsamen. Das ist meines Erachtens die aktuelle Herausforderung. Es ist mir klar, dass es viel Arbeit macht und man die nötigen Mittel aufbringen und einsetzen muss. Aber als Verband muss man sich überlegen, ob man dazu in der Lage ist, eine Bewegung zu fördern, anstatt nur zu sagen: ‚Wir wollen mehr von unseren Produkten verkaufen.‘ Also eben nicht das Schaufenstermarketing, sondern einen Trend befördern. Ich könnte mir vorstellen, dass es Sinn macht, so etwas Großes anzugehen. Die anderen Strukturen sind in unserem Verband ja jetzt alle da, erprobt und geübt. Es muss jetzt eine größere Vision her. Doch man muss sie sich auch zutrauen und dann mutig voranschreiten.

Klingt, als sähen das nicht alle Verbandsmitglieder so?

Die allermeisten Manufakturen – vor allem die kleineren – sind sich nicht darüber im Klaren, dass sie eine wirtschaftskulturelle Rolle spielen, aus der sie ja auch etwas machen dürfen. Es wird – nach meinem Empfinden – zu klein gedacht und man traut sich zu wenig zu. Man könnte ruhig stärker seine Produktionsorte prägen. Gerade im Hinblick auf die Manufakturen denke ich, dass die Globalisierung so abgehoben hat, dass darunter Platz für viel Neues entstanden ist. Da, glaube ich, könnte man ansetzen.

Foto: Julia Francesca Meuter

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Pascal Johanssen: „Das Anstiften von positiven oder kritischen sozialen Verhaltensweisen“

23. Januar 2020, Berlin. Wenn aus dem Direktorenhaus in Berlin eine neue Publikation angekündigt wird, steigt die Spannung: Niemand hat bisher auf eigenes Risiko so viele Veröffentlichungen zu Manufaktur-Fragen riskiert, wie Pascal Johanssen. Jetzt legt er das Buch ‚Handmade in Germany – Manufactory 4.0‘ vor. 260 Seiten Texte, Interviews und Fotos, in und mit denen gemeinsam er der Frage nach der Manufaktur in Gegenwart und Zukunft nachgeht. Und damit die Gedanken auch aus dem deutschsprachig-kulturellen Schmortopf entweichen können, ist das Buch komplett zweisprachig deutsch-englisch gehalten – 38 Euro Kaufpreis sind gut investiertes Geld, wenn man wissen möchte, wohin die Reise der Manufakturen gehen und welche Bestimmung den Manufakturen in unserem Wirtschaftssystem zukommen könnte…

Ja, Sie haben richtig gelesen: Bestimmung. Denn genauso, wie das Erlernen von handwerklichen Fähigkeiten unser Gehirn anregt und weiterentwickelt, so muss man nur das „Vieles geht“ der freien Kräfte der liberalisierten und globalisierten Marktwirtschaft gedanklich für einen Augenblick verlassen, um sich zu erinnern, dass Dinge und Systeme eine Bestimmung haben können, die sich aus ihrer jeweiligen Immanenz der vielen kleinen typischen Teilchen zusammensetzt und nicht nur Problem, sondern zugleich Lösung anbietet. Bei Pascal Johanssen im Buch klingt das dann so:

„Die These dieses Buches ist, dass wir ein neues Qualitätsverständnis für unsere Produkte brauchen, das Solidität, Agilität und Pietät verbindet. … Pietät schließlich meint in diesem Zusammenhang, eher im antiken Wortsinn, den Respekt vor dem Menschen, als ‚pflichtbewusstes Benehmen gegenüber Mensch und Gott‘. Den Produkten muss eine ethische Komponente eingewoben sein, die ausspricht, dass eine positive Zukunft nicht allein durch technologische und ökonomische Möglichkeiten angetrieben wird, sondern zudem von einer kulturellen Leitidee getragen wird: nämlich von der Vision, ein gutes Leben für möglichst weltweit zehn Milliarden Menschen organisieren zu können.“

Ist das nicht ein aufregendes Zitat aus dem Buch? Daran erinnert zu werden, dass man als kleine Manufaktur und Kunsthandwerker in irgendwo doch am Großen und Ganzen mitarbeitet, man für die Nachhaltigkeit in der Konsumgüter-Branche mit verantwortlich sein könnte?

Ich jedenfalls verabredete mich mit Pascal Johanssen sofort zu einem Telefongespräch über sein neues Buch:

„Das Buch soll eine Lebens- und Arbeitseinstellung zusammenfassen“

Welche Idee steckt hinter dem neuen Buch?

Mir geht es darum, aufzurütteln. Wir haben viele facettenreiche Unternehmen mit Qualitäten, die weit über das reine Produzieren schöner Produkte hinausreichen. Aber niemand weiß das. Viele bewegen sich in Nischen. Man hat das Gefühl, dass das notwendige ‚übergeordnete Gespräch‘ fehlt. Das war mein Ansatzpunkt für das Buch: die Akteure selber zu Wort zu bringen. Sie dazu zu bringen, Chancen und Probleme selbst zu formulieren.

Das Buch ist mit einem aufwändig geprägten Hardcover ausgestattet – aber nach dem Lesen und Betrachten der vielen Fotos versteht man doch: Es ist eigentlich ein Arbeitsbuch mit Thesen zu Manufaktur und artverwandter Produktionsformen. Was hat dich zu dieser Buchausstattung bewogen?

Das Buch ist ja nicht in erster Linie nur für Manufakturen gedacht. Es ist für Leser gedacht, die die Vermutung haben, dass hinter der Fassade der „romantischen“ Manufakturen, von denen man ab und zu liest, eigentlich etwas ganz Anderes steckt: nämlich heutige Unternehmen, die in der Gegenwart leben, aber nicht industriell produzieren und nicht jeden Trend mitmachen. Das Buch soll eine Lebens- und Arbeitseinstellung zusammenfassen.

Mir ging es tatsächlich darum, dass auch Unbeteiligte Eindrücke aus dieser Welt bekommen können – quer durch die Gewerke, quer durch die unterschiedlichen Größen der vorgestellten Betriebe. Bilder sind da natürlich ebenso wichtig wie Texte. Die Typografie des Buches ist vielleicht etwas experimentell, na ja, das ist Geschmacksache!

Zum Inhalt. In deinem vorangestellten Essay fällt das Wort „Pietät“ auf. Was hast du dir bei der Einführung dieses Wortes in den Manufakturen- und Konsum-Gesellschafts-Diskurs gedacht?

Der Begriff Pietät wirkt ziemlich aus der Zeit gefallen, das dachte ich auch schon… er wird ja eher mit Bestattungsunternehmen im Verbindung gebracht. Mir ging es aber um etwas Anderes. Ich wollte ausdrücken, dass Unternehmen heute, nach allem was man weiß, eine Verantwortung tragen: für die Umwelt, den Konsum, das Anstiften von positiven oder kritischen sozialen Verhaltensweisen.

Manufakturen-Blog: Das neue Buch 'Handmade in Germany - Manufactory 4.0' von Pascal Johanssen - versehen mit Arbeitsmarken des Interviewers (Foto: Wigmar Bressel)

Das neue Buch ‚Handmade in Germany – Manufactory 4.0‘ von Pascal Johanssen (versehen mit Arbeitsmarken des Interviewers)

Dieses Verantwortungsbewusstsein trägt heute – gerade in Deutschland – jeder gern vor sich her, jedes Unternehmen, ob es jetzt Windkraftanlagen baut oder Müsli einrührt. Diese demonstrative „Verantwortung“ ist mittlerweile ein Standart-Dispositiv des Ethik-Marketings. Pietät ist leiser. Ein eingeschriebenes Gefühl für Angemessenheit, das man hat oder nicht. Die Produkte der Zukunft müssen neben ihren anderen Produktqualitäten mit einer Selbstverständlichkeit „Gutes“ bewirken, ohne das man darüber ständig reden muss.

Du meinst, du hast ein Wort gesucht, das von den Zeitgeist-Leuten noch nicht leichtfertig verbraucht wurde…

Ja. Zeitgeist ist ja nichts Schlechtes, aber die große „Verantwortungserwartung“, die die heutige Welt jedem abverlangt, macht alles so schwer. Eine selbstverständliche Leichtigkeit, ein intelligenter Umgang mit Ressourcen, wäre doch schon ausreichend.

Du weist im Buch den Manufakturen eine Bedeutung für die Nachhaltigkeits-Wende im Konsumgüterbereich zu. Siehst du in der Produktionsart von produzierendem Handwerk und Manufakturen eine Immanenz in der Frage von Nachhaltigkeit?

Ich habe mir immer die Frage gestellt: Welche Rolle spielt eigentlich ein nicht-industriell produzierendes Unternehmen heute noch? Soll es – wie ein Museum – an althergebrachte Fertigungstechniken erinnern? Natürlich nicht. Manufakturen sind auch nicht einfach Luxusunternehmen, die für die happy few produzieren. Das können gern die Luxuskonzerne übernehmen. Aus meiner Sicht knüpfen Manufakturen an den Werkbund-Gedanken an, an die Frage, was eigentlich ein gutes Produkt ausmacht, das sich in die alltägliche Lebenswelt von normalen Menschen einbringen kann. Die Lösung dieser Frage ist gar nicht so einfach, weil allen ethischen und emotionalen Wünschen immer eine wirtschaftliche Realität für alle Beteiligten entgegensteht. Die Beantwortung der Frage, was ein gutes Produkt heute ist, also die Aktualisierung des Werkbund-Gedankens, kommt an der nachhaltigen Produktion nicht vorbei. Für die Realisierung der Konsumwende haben Manufakturen tatsächlich eine aktuelle Relevanz! Sie können hier etwas leisten, was andere nicht können. Die anderen großen Themen – die Energiewende oder Mobilitätswende etc. – werden zwischen Politik und Industrie ausgehandelt. Hier haben Manufakturen keine messbare Wirkung, sie sind höchstens Ideengeber. Bei der privaten Konsumwende können Manufakturen einschreiten: sie bieten dem Kunden, der das gängige Industrieprodukt sieht und kennt, das etwas bessere Produkt. Die Alternative, die vielleicht sauberer produziert wurde, die etwas schöner ist, bei dem der Kunde vielleicht sogar denjenigen kennt, der es hergestellt hat. Das sind Qualitäten, die Industrieprodukte nur ganz schwer simulieren können.

Fotos: Philipp Haas, Wigmar Bressel

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Pascal Johanssen (ed.)

Handmade in Germany – Manufactory 4.0

deutsch/englisch, Hardcover

EUR 38,00

ISBN 978-3-89790-541-2

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„Es geht um uns selbst“ – Julia Francesca Meuter im Gespräch über ihr Buch ‚Vom Wert der Dinge‘

30. März 2019, Bremen. Im März 2019 erschien im Verlag Deutsche Manufakturen e. V. das Buch zur Masterarbeit von Julia Francesca Meuter: ‚Vom Wert der Dinge‘.

Meuter, Jahrgang 1992, ist in Neapel als Kind deutscher Eltern geboren und aufgewachsen, hat in Florenz den ersten Teil ihres Studiums (Bachelor in Industrie-Design) absolviert, den zweiten Teil in Bremen an der Hochschule für Künste (Master in Integriertes Design). In dieser Arbeit beschäftigte sie sich mit Manufakturen. Die Buchgestaltung war Teil der Masterarbeit.

Wigmar Bressel: Frau Meuter, sind sie durch Ihre Beschäftigung mit Manufakturen schlauer über diese und den ‚Wert der Dinge‘ geworden?

Julia Meuter: Über Manufakturen auf jeden Fall. Meine Vorstellung von Manufakturen entstammte dem, was ich von Manufactum her kannte: eine Welt von Produkten aus Holz oder Naturbelassenem – es ging eben mehr in Richtung Handwerk, als größere Produktionen, die größer als Dinge aus dem Handwerk sind. Es hat mir geholfen einen Einblick zu bekommen, den Begriff auch für mich zu definieren und zu beschreiben.

Wo liegt denn für sie die Bedeutung von Manufakturen und manufakturartigen Betrieben?

Das „Manufakturartige“ ist ja ein bisschen das Problem. Ich habe verstanden, dass es eine Grenze gibt, die der Manufaktur-Begriff umschreibt, sowie eine gewisse Art von Produkten und Ansprüche, die an diese Produkte gestellt werden. Und bei vielen Produkten kann man feststellen, dass das Etikett „Manufakturprodukt“ nur als Marketingbegriff verwendet wird – das Produkt dem jedoch nicht entspricht.

Haben Manufakturen ihrer Meinung nach Zukunft?

Ja. Ich glaube ja. In Anbetracht einer größeren Veränderung unserer Gewohnheiten und unserem Kaufverhalten, in unseren Bedürfnissen auch. Ich glaube, dass Manufakturen in unserer Gesellschaft zukünftig eine große Rolle spielen können. Wenn wir uns darauf einlassen, unseren Konsum etwas zu beschränken, dann können die Produkte, die Manufakturen anbieten, Teil dieser Veränderung sein. Deswegen noch einmal: ja.

Was hat sie im Rahmen ihrer Recherche am Meisten überrascht?

Da ich mich sehr für Entwicklungsprozesse interessiere, fand ich den historischen Hintergrund sehr interessant, aus dem heraus es zur Gründung von Manufakturen kam, die Begriffsentwicklung, wirtschaftliche und soziale Prozesse, die eine Rolle spielten. Außerdem überraschte mich die große Anzahl an unterschiedlichen Bereichen, in denen es Manufakturen gibt. Welche Vielfalt an Produkten hergestellt wird, die alle gebraucht werden. Es hat mich bereichert, darin Einblicke gewährt zu bekommen.

Glauben sie, dass sie selbst einmal in einer Manufaktur arbeiten werden?

Das könnte ich mir vorstellen. Wie sieht die Manufaktur der Zukunft aus? Wie kann man Veränderungen bei Produkten und im Auftritt gestalten? Die Mitarbeit an diesem Prozess fände ich spannend.

Führt sie ihr Weg jetzt zurück nach Italien? Oder bleiben sie in Deutschland? Oder ist es ihnen im Prinzip egal, wo sie arbeiten werden?

Ja, ich würde schon gerne zurück nach Italien. Aber nach vier Jahren in Bremen fühle ich mich hier auch ein bisschen zuhause. Meine Heimatstadt Neapel ist natürlich ein bisschen größer – aber ich muss zugeben, dass ich mich da auch vor allem in meinen Kreisen bewege, und weniger ein Großstadtgefühl habe. Neapel ist trotz der vielen Einwohner auch ein bisschen dörflich.

Was hält sie denn davon ab, jetzt die Werkstatt von Franco und Maria – zwei der Protagonisten ihres Buches – zu übernehmen?

Deren Werkstatt ist ja hauptsächlich handwerklich ausgelegt. Auch wenn ich es interessant finde, was sie machen, ist es nicht wirklich etwas für mich. Ich bin kein Künstler oder Kunsthandwerker. Ich bin Gestalterin. Vermutlich würde mich das rein Handwerkliche nicht erfüllen.

Aber es gibt ja viele Gestalter – ich denke zum Beispiel an Stefanie Hering aus Berlin, die ihr Porzellan ja auch ‚nur‘ entwirft und dann zum Beispiel von der Porzellanmanufaktur Reichenbach in Thüringen fertigen lässt. Es gibt viele Beispiele, in denen am Anfang der Unternehmensgründung ein Designer stand – der am Ende einen großen Fertigungsbetrieb hatte. Zum Beispiel Bernd T. Dibbern von der gleichnamigen Manufaktur. Sie sind gestartet mit einer Idee für Möbel oder Porzellan oder Glas – am Ende hat es ihnen keiner so hergestellt, wie sie es genau wollten. Dann haben sie es eben selbst gemacht – notgedrungen.

Manufakturen-Blog: Buchtitel 'Vom Wert der Dinge' (Grafik: Julia Francesca Meuter)

Buchtitel ‚Vom Wert der Dinge‘ (Grafik: Julia Francesca Meuter)

Ja, das stimmt. Ich bin jedoch auch kein Produktdesigner. Ich habe so zwar mal in Florenz mein Studium begonnen – aber ich mache gerne grafische Gestaltung und ich interessiere mich für breitere Prozesse, als nur für das Endprodukt an sich. Ich interessiere mich dafür, wie ein Produkt soziale oder menschliche Beziehungen verändern kann. Wie Manufakturen ein Teil einer anderen wirtschaftlichen Entwicklung sein könnten. Wie die Gesamtsumme der Prozesse unsere Entwicklung beeinflussen kann.

Aber die Frage ist dann ja: Wer ist ihr Auftraggeber? Wer hat daran ein Interesse? Wie kann man das einbringen – und zu welchem Zweck will man es einbringen?

Überall da, wo es Entscheidungsprozesse gibt, wo es Entwicklungsprozesse gibt, wo es Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Es geht ein Stück weit um den öffentlichen Raum, der gestaltet werden muss – und da reichen eben Architekten nicht aus, sondern es bedarf Kulturwissens und vieler Wissensrichtungen, damit ein Umbau oder ein Neubau nicht floppt. Dafür werden wir heute ausgebildet.

In ihrem Buch stellen sie ja die These auf, dass wir unsere Gesellschaften ohne große Verluste in unserem Konsumverhalten wandeln könnten. Jedoch haben Menschenmassen und Gruppen oft keine Lust sich zu wandeln. Sie leben so vor sich hin, wie sie es kennen. Was denken sie: Wird das ein Kampf, eine Überzeugungsleistung – oder ist das eine Einsicht, die eigentlich schon da ist und unter dem bisherigen Verhalten schlummert und nur geweckt werden will? Ich meine: Konsumkritik gab es ja schon immer.

Genau – Konsumkritik gab es schon immer. Leute, die dafür warben, dass man nicht so viel oder überhaupt nicht fliegt, dass man Müll trennt, Plastik wiederverwertet. Wir scheinen mir inzwischen einen Schritt weiter. Es gibt ja diese Schülerbewegung ‚Fridays for Future‘, die europaweit für Veränderungen in der Klimapolitik demonstriert. Es scheint immer mehr Menschen unvermeidbar, dass sich etwas ändern muss. Und dass es uns einzelnen Menschen obliegt, zu entscheiden, wen wir an die Macht wählen.

Ich habe jetzt vor einigen Wochen beschlossen, keine Bananen und keine Mangos mehr zu kaufen, weil der Frachtweg zu weit ist. Es gibt andere Obst- und Gemüsesorten, die mehr Kalium als Bananen haben und näher angebaut werden – das kann man für sich ja einmal ausprobieren. Auch kleine Entscheidungen machen einen Unterschied.

In der Zeitschrift ‚National Geografic‘ stand, es ginge ja nicht darum, die Welt zu retten – sondern diese für uns. Es geht um uns selbst. Wenn die Meeresspiegel immer weiter steigen, dann ist es nicht nur für die Küstenstädte, sondern ziemlich schnell für uns alle ein Problem.

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Julia Francesca Meuter: Vom Wert der Dinge

190 Seiten, 94 Fotos

ISBN 978-3-9814732-4-7

EUR 22,00

Foto: privat

Grafik: Julia Francesca Meuter

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Benedikt Poschinger: „Jeder muss zu seiner Zeit das Richtige tun, damit er das Unternehmen erhält“

23. November 2018, Frauenau. „Seit 1568“, sagt Benedikt Freiherr Poschinger von Frauenau, „gibt es die Glashütte in Frauenau.“ Seitdem ist sie im Besitz der Familie von Poschinger. Als die Poschingers mit der Herstellung von eigenem Glas im Bayerischen Wald begannen, waren gerade einmal 76 Jahre vergangen, seit Christoph Kolumbus den amerikanischen Kontinent entdeckt hatte. Im Jahr 1568 floh Maria Stuart aus einem schottischen Gefängnis, die Konquistadoren suchten nach El Dorado, Katharina von Medici versuchte in Frankreich die Hugenottenkriege zu beenden und es sollten noch mehr als 200 Jahre vergehen, bis der Seefahrer James Cook Australien entdeckte. Falls damals in einem der in Frauenau hergestellten Gläser versehentlich eine Luftblase eingeschlossen wurde – dies gilt als Fehler in der Glasherstellung – hätte sie sich in den vergangenen 450 Jahren möglicherweise ein kaum wahrnehmbares Stück bewegt. Glas soll sich im Laufe der Zeit verändern.

Ebenso die Menschen. Seit den Anfängen sind auf den im Jahr 1523 geborenen Joachim Poschinger, der als erster der Familie mit der Glasherstellung begann, 15 Generationen gefolgt. Die Glasmanufaktur in Frauenau befindet sich seit 450 Jahren in Familienbesitz. Damit ist sie die Älteste ihrer Art in Deutschland und weist weltweit die am weitesten zurückreichende Familientradition im Glas auf. Wie, frage ich Benedikt Freiherr Poschinger von Frauenau, geht man mit so einer Tradition um?

„Selbstverständlich ist es eine Verpflichtung“, sagt der 47jährige, der die Glasmanufaktur im Jahr 2007 von seinem Vater übernahm. „Andererseits ist es aber auch ein Ansporn dazu, so wie die Generationen vor mir, das Beste zu geben und die Manufaktur zu bewahren. Jeder muss zu seiner Zeit das Richtige tun, damit er das Unternehmen erhält und an die nächste Generation übergeben kann. Wenn man bedenkt, dass Vorfahren von mir während des Dreißigjährigen Krieges mit dieser Sache beschäftigt waren, kann man sich vorstellen, wie groß diese Herausforderung sein kann.“  Abgesehen von dem erwähnten Dreißigjährigen Krieg überstand die Glasmanufaktur auch zwei Weltkriege, die Industrielle Revolution und ist bislang auch der Globalisierung erfolgreich begegnet.

Manufakturen-Blog: Poschingers Glasmanufaktur in Frauenau (Foto: Martin Specht)

Blick auf Poschingers Glasmanufaktur in Frauenau…

Manufakturen-Blog: In der Ofenhalle mit dem "dreihäfigen" Glasofen (Foto: Martin Specht)

…und in die Ofenhalle mit dem „dreihäfigen“ Glasofen

„Diese Verpflichtung“, betont der Freiherr, „fühle ich zwar, aber auf eine Weise, die mich nicht erdrückt. Das ist, glaube ich, sehr wichtig, weil man sonst erstarrt. In alten Familien wird Tradition und ein gewisses Denken darüber bewusst und auch unbewusst weitergegeben. Die Familiengeschichte ist auf vielerlei Art greifbar, auch in Gemälden oder Gebäuden.“

In solch einem historischen Gebäude befindet sich die Glasmanufaktur „von Poschinger“. In den Büros hängen Jagdtrophäen und Familienportraits. In der Ofenhalle nimmt ein Sammlung historischer Gläser, die dort hergestellt wurden, eine meterhohe Wand ein. Ein großes Holz-Kruzifix fällt ins Auge. Und auch der Raum, in dem wir unser Gespräch führen, sieht aus, als wäre er Bestandteil eines Museums. Möbel und Gemälde aus dem 17. beziehungsweise 18. Jahrhundert, dunkles Holz und eine Vielzahl von Ordnern und Mappen.

„Trotz der langen Tradition“, fährt der Freiherr fort, „hat unser Vater meinem Bruder und mir immer freie Wahl darin gelassen, was wir machen möchten.“ Benedikt Freiherr von Poschinger hat Forstwirtschaft studiert, bevor er die Leitung der Glasmanufaktur übernahm.

„Ich kenne Beispiele aus anderen Familien, wo den Kindern schon früh gesagt wird: ‚Denk daran, du bist einmal derjenige, der das alles übernehmen muss!‘ Ich denke, wenn so etwas zur falschen Zeit in der Entwicklung geschieht, besteht die Gefahr, dass die Nachkommen dann gerade etwas anderes machen, als das, was die Eltern sich vorstellen.“

Allerdings, auch diesen Aspekt berührt das Gespräch, ist die Möglichkeit einer freien Berufswahl eine relativ moderne Entwicklung.

„Früher gab es die klassischen Laufbahnen der Söhne“, erläutert Benedikt von Poschinger. „Wenn es mehrere waren, dann hat einer den Betrieb übernommen, einer ging zum Militär und einer ins Kloster oder wurde Priester.“ Und nach einem Moment des Nachdenkens fügt er an: „Heute ist es Gott sei Dank so, dass sich jeder verwirklichen kann. Aber auch das kann eine gewisse Gefahr bergen.“

Benedikt Poschinger ist sich der Tatsache bewusst, dass er zwar einerseits Bestandteil einer überaus langen Tradition ist, andererseits jedoch einen Betrieb mit etwa 30 Angestellten in einer modernen und globalisierten Welt führt. Seine Schlussfolgerung: „Man muss den Blick frei haben und auch in einem traditionsreichen Unternehmen modern denken.“

Dass gerade im Bayerischen Wald vor einigen Hundert Jahren eine Vielzahl von Glashütten entstand, hat sowohl geographische, wie auch geologische Gründe. Zur Glasherstellung benötigt man Quarzsand, der sich bei einer Temperatur von circa 1.400 Grad Celsius zu Glas schmelzen lässt. Um die Öfen für diesen Schmelzprozess heizen zu können, war das Vorhandensein von Holz in ausreichendem Maße nötig. Beides fand sich im Bayerischen Wald.

„Heute würde man sagen: es gab hier einen Standortfaktor“, so Freiherr Poschinger. „Der Bayerische Wald ist ein Granit-Gneis-Gebirge, in dem Quarz in großen Mengen vorkommt. Und Holz ebenso. So, wie die Porzellan-Hersteller dort sind, wo Kaolin natürlich vorkommt, oder die Eisenhütten dort sind, wo es Kohle gibt, sind die Glashersteller hier zuhause. Das war früher nicht anders möglich. Man konnte im Bayerischen Wald auch hervorragend die Wasserkraft nutzen. Bäche und Flüsse, die die Mühlräder, die Schleifsteine und Schleifereien angetrieben haben.“

Damals wie heute werden Kanten und Grate der Gläser nach dem Erkalten abgeschliffen. Während Benedikt Poschinger spricht, sind in der Ofenhalle hinter ihm die Glasbläser am Werk und balancieren geschickt rotglühende Klumpen an langen Blasrohren. Wenn sie das Glas zum Abkühlen in einen der Wasserbehälter tauchen, steigen weiße Dampfwolken in die historische hölzerne Dachkonstruktion empor. Mit einer Ausnahme, sagt der Freiherr, sei alles, was man zur Glasherstellung benötigte, im Bayerischen Wald zu finden gewesen. Das, was fehlte, war Kalk. Die Zugabe von Kalk während des Schmelzprozesses sorgt dafür, dass das entstehende Glas besser aushärtet. Er musste aus der Ulmer Gegend in die Glashütten des Bayerischen Wald gebracht werden.

„Es waren die Landesherren“, sagt Benedikt Poschinger, „die das Glashandwerk im Bayerischen Wald speziell gefördert haben. Das hatte einen einfachen Grund: Nur aus der Holzwirtschaft [vor Beginn der Glasherstellung der dominierende wirtschaftliche Faktor in der Region] waren keine großen Steuereinnahmen zu erwarten. Darum haben die Landesherren Anreize geschaffen, damit sich Menschen ansiedeln und Glashütten betreiben.“ Poschinger lacht. „Heute würde man sagen: Das war Strukturpolitik.“

Seit ihren Anfängen hängt die Glasherstellung im Bayerischen Wald mit der Land- und Forstwirtschaft zusammen. Heute hat die Familie von Poschinger den größten Waldbesitz in Niederbayern.

„Diese Konstellation“, so der Freiherr, „musste bestehen, weil man das Holz zum Heizen der Öfen brauchte. Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Manufaktur, das gehörte zusammen. Glas machen ohne Wald ging nicht. So waren die frühen Glashütten damals auch analog zum Landwirtschaftsgut sogenannte ‚Glashüttengüter‘. Man kann sich diese Glashüttengüter als weitgehend autarke ‚Siedlungs-Inseln‘ im Wald vorstellen. Zum Transport der Waren verwendete man Ochsenkarren; die Zugtiere und die Ernährung der Menschen machten den landwirtschaftlichen Faktor aus.“

Manufakturen-Blog: Klassisches Drehen und Blasen - mit viel Geschick und Erfahrung entstehen perfekte Formen (Foto: Martin Specht)

Klassisches Drehen und Blasen – mit viel Geschick und Erfahrung entstehen perfekte Formen…


Manufakturen-Blog: Herstellung einer historischen Schlegelflasche in der Glasmanufaktur von Poschinger (Foto: Martin Specht)

…die immer wieder nacherhitzt werden müssen – wie hier bei der Herstellung einer historischen Schlegelflasche


Manufakturen-Blog: Ein Mitarbeiter trägt einen großen gläsernen Tischfuß zum Schleifen (Foto: Martin Specht)

Ein Mitarbeiter trägt einen großen gläsernen Tischfuß zum Schleifen

Zur damaligen Zeit war die Donau die nächstgelegene große Verkehrsader, zu der die kostbaren Gläser transportiert wurden, um über den Fluss weiter verschifft zu werden.

Im 18. Jahrhundert tauchte der „eiserne Moa“ im Bayerischen Wald auf: Als „eisernen Mann“ bezeichneten die Menschen in der Region die ersten Maschinen, die Handarbeit durch maschinelle Fertigung ersetzten. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren die meisten Gläser und Glaserzeugnisse in Europa mundgeblasen. Das änderte sich mit dem Fortschreiten der Industrialisierung. Und zum ersten Mal in der Geschichte waren die Glashütten nicht mehr an einen  Standort gebunden. Rohstoffe und Produkte konnten dank Eisenbahn und – etwas später den Automobilen – beinahe überall hin transportiert werden. Um dieser veränderten Marktlage zu begegnen, mussten die Glashütten mehr bieten, als reine Gebrauchsgläser.

„Früher stellten wir hauptsächlich einfache Trink- oder Vorratsgläser her“, sagt Freiherr Poschinger. „Aber im Zuge der Industrialisierung tauchten auch Kunstströmungen, wie der Jugendstil, in der Gestaltung unserer Glaserzeugnisse auf. Heute würde man Produktdesign dazu sagen.“

Einer der bekanntesten unter den Gestaltern, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Glasmanufaktur von Poschinger zusammenarbeiteten, war der 1868 geborene Peter Behrens. Zum Beispiel der Schriftzug „Dem deutschen Volke“, der über dem Portal des Berliner Reichstagsgebäudes prangt, entstand unter seiner Mitwirkung. Behrens – der auf den Gebieten des Typhographie, Architektur und Produktgestaltung tätig war – war einer der Vorläufer des modernen Industrie-und Corporate-Designs. Ein von ihm gestaltetes Trinkglas wird heute immer noch unter der Bezeichnung „Peter-Behrens-Glas“ in der Glasmanufaktur von Poschinger hergestellt.

Auch heute arbeitet Benedikt Poschinger mit Künstlern und Designern zusammen. „Es ist spannend, Design und Handwerk zusammenzuführen“, sagt der Freiherr. „Glas ist ein ganz besonderer Werkstoff, der – könnte man sagen – seinen eigenen Kopf hat. Eine mit einem CAD-Programm erstellte Zeichnung, bei der es um Winkel mit einem Zehntel Grad geht, das ist vielleicht in einem metallverarbeitenden Betrieb machbar, aber nicht mit mundgeblasenem Glas. Wenn man aber dann mit dem Designer gemeinsam die Grenzen des Machbaren auslotet, entstehen dabei faszinierende Lösungen. So ist zum Beispiel der Tisch von Sebastian Herkner entstanden.“

Der Bell Table hat einen glockenförmigen Fuß von Poschinger aus farbigem Glas und wird von der Firma ClassiCon vertrieben.

Jedoch konnten sich längst nicht alle Glashütten, die es im Bayerischen Wald gab, mit besonderem Design und einem veränderten Angebot behaupten. Betriebe, die die Industrialisierung gemeistert hatten, mussten in den 1990er Jahren den Herausforderungen der Globalisierung begegnen.

„Vor der Automatisierung“, so Benedikt Poschinger, „wurden selbst Glühbirnen mundgeblasen. Heute entstehen in einer Hightech-Fabrik durch Press-Blas-Verfahren um die 15.000 Gläser pro Stunde. Wir schaffen gerade einmal 30. Die industrielle Massenfertigung hat zu einem Rückgang an Arbeitsplätzen geführt. Dadurch drohen natürlich auch spezielle handwerkliche Fähigkeiten auszusterben.“ Nach einem Moment des Nachdenkens fügt er fügt an: „Ein weiterer ‚Schlag‘ für die Glashütten war die Öffnung des Markts für osteuropäische Waren. Auf einmal drängten Glashütten aus Polen, Weißrussland oder Rumänien auf den Markt.“

Zusätzlich dazu, erklärt Poschinger, hätten sich bei vielen Menschen in Deutschland die Tischsitten dahingehend verändert, dass Gläser häufig zu einer Trendware werden, die nach einer Saison durch Neue ersetzt wird. Darum dürfen sie nicht viel kosten und stammen oft aus dem billigen Sortiment großer Möbelhäuser. „Zum Glück“, so Benedikt Poschinger, „gibt es aber auch wieder mehr Menschen, die Wert auf etwas Beständiges legen.“

Die Frage, wie viele Glashütten heute noch in der Region existieren, ist schnell beantwortet:

„Außer der Glasmanufaktur von Poschinger gibt es in Frauenau noch eine Glashütte und bei Zwiesel die Firma Theresienthal, sowie die große maschinell betriebene Hütte Zwiesel-Kristallglas, ehemals Schott.“

Die Glashütte Theresienthal war bis in die 1970er Jahre ebenfalls im Besitz der Familie von Poschinger. „Unser Familie ist verzweigt“, erzählt der Freiherr. „Nach Theresienthal wurde eingeheiratet. Der Kompagnon des letzten Poschinger, der dort saß, hat die Hütte verkauft. Dann ging sie zweimal in die Insolvenz. Heute wird sie als Kapitalgesellschaft geführt.“

Wäre es für die Familie von Poschinger eine Option gewesen, die zum Verkauf stehende Glashütte zu erwerben? „Nein,“ sagt Benedikt Poschinger, „eine Glashütte reicht.“

Es gibt keinen besseren Ort um ein Gespräch über Tradition und Geschichte der Glasmanufaktur von Poschinger zu führen, als den Raum der „das Gedächtnis der Hütte“ genannt wird. Hier sind die Entwürfe und Zeichnungen aus mehreren hundert Jahren archiviert. „Wenn ein Kunde käme, und nach etwas Altem fragte“, so der Freiherr, „würde er es hier finden. Nicht die Form selber, in der das Glas geformt wird, denn diese Formen sind aus Holz und gehen irgendwann einmal kaputt. Aber die Schnitte und technischen Formzeichnungen sind in Zeichenbüchern und Ordnern archiviert. Und für manchen Designer ist dieses Durchblättern durch die Jahrzehnte eine Inspiration.  Manchmal holt man eine Form hervor, die plötzlich wieder sehr aktuell ist. Diese Dinge sterben nie.“

Durch die Fenster des „Gedächtnisses“ fällt der Blick auf die große Ofenanlage und die Glasbläser darum herum. Auch ihre Vorgänger – wenn auch nicht in familiärer, so doch in handwerklicher Tradition – waren bereits vor 450 Jahren an diesem Ort mit der Herstellung von Glas beschäftigt.

Manufakturen-Blog: Poschinger fertigt auch historische Karaffen und Glasgegenstände nach (Foto: Martin Specht)

Poschinger fertigt auch historische Karaffen und Glasgegenstände nach

Fotos: Martin Specht

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Jürgen Betz: „Über das Sponsoring haben wir Ideen für neues Design gesammelt“

11. Juli 2018, Efringen-Kirchen. Borgward ist echt wieder da! Beim Classic-Rennen in Le Mans (Drei Wertungen Tag-Nacht-Tag) belegte ein Borgward Hansa Renncoupé 1500 mit geschätzten 105 PS den überraschenden 4. Platz in der Klasse bis 1500 Kubikzentimeter Hubraum. Und wer hat als Hauptsponsor das 35 000 Euro teure Abenteuer ermöglicht? Die Borgward Zeitmanufaktur aus dem Landkreis Lörrach, ein Sechs-Mann-Betrieb! Höchste Zeit für ein Interview mit deren geschäftsführendem Gesellschafter Jürgen Betz zu den Gründen für dieses „etwas größere“ Engagement.

Der große Wirtschaftswunder-Name Borgward aus Bremen – spektakulärer Nachkriegsaufstieg, dann die genauso überraschende und spektakuläre Pleite. Aufkauf durch Hanomag, Büssing, Faun; das Werk in Bremen-Sebaldsbrück landete schließlich via Hanomag bei Daimler. Wegdämmern in die Geschichte… Schließlich wurde sogar die Marke aufgegeben. Danke dafür! Denn nur so konnte Borgward wieder auferstehen. Es schlug die Stunde des Jürgen Betz: Der Zifferblatt-Spezialist und Besitzer eines historischen Goliath Hansa 1100 schützte sich im Jahr 2003 die freie Marke Borgward und gab ihr neuen Sinn: als Uhr aus seiner neugegründeten Manufaktur. Und inzwischen werden ja auch wieder Borgward-Autos gebaut…

Manufakturen-Blog: Jürgen Betz (M.) mit dem Borgward Zeitmanufaktur Rennteam in Le Mans (Foto: Borgward Zeitmanufaktur)

Jürgen Betz (M.) mit Johann und Jakob Larsson des Borgward Zeitmanufaktur Rennteams in Le Mans

Interview

Es liegt zwar nahe, dass die Borgward Zeitmanufaktur sich auch für Borgward Autos interessiert – aber es ist trotzdem noch ein großer Schritt zum ‚Borgward Zeitmanufaktur Rennteam‘. Warum dieses große Engagement?

Jürgen Betz: Ich hatte vor einiger Zeit von dem Rennwagen gehört und ihn mir auf dem Borgward Welttreffen in Bremen auch angesehen. Er schien mir zwar ziemlich dahingedengelt auszusehen – aber mir war der historische Hintergrund bewusst und mit der Zeit habe ich mich in sein eigentümliches Renndesign hineingeschaut. Als Nächstes hörte ich, dass der Automobilbauer Borgward nicht als Sponsor des Rennwagens für Le Mans zugesagt hätte – da habe ich gesagt: Wir machen das. Eine Bauchentscheidung. Aber sie ist richtig. Denn Event und Rennwagen schlagen die Brücke zu unserer neuen Sportuhren-Linie ‚Forty one‘. Dazu wäre es ohne den Rennwagen nicht gekommen.

Woher stammt der Borgward-Rennwagen?

Er wurde von der Borgward-Rennsportabteilung für das 24-Stunden-Rennen zusammen mit zwei weiteren seiner Art konstruiert und gebaut. Spannend ist, dass er im Jahr 1953 in Le Mans mit der Startnummer 41 antrat – allerdings während des Rennens ausfiel. Als nun letzter seiner Art gelangte er schließlich nach Schweden, gehört heute Lars-Erik Larsson. Die Larssons sind rennbegeistert – im Kindesalter fuhren die beiden Söhne – Johann und Jakob – von Lars-Erik Kart. Und sie haben eine nötige Rennlizenz für Amateurfahrer. Diese wird benötigt, da sich in Le Mans die Fahrer abwechseln müssen und nicht einer allein das Rennen bestreiten kann.

Wie bereitet man sich auf solch ein Rennen vor?

Trainiert haben wir bei der Nürburgring-Classic vor vier Wochen – danach wussten wir: Der Wagen muss nochmal zurück nach Schweden und noch verbessert werden. Aber es hat sich gelohnt. Er ist schneller als ein historischer Porsche 356 und kann damit gegen die Porsche-Konkurrenz gewinnen.

Hat der Wagen komplizierte Technik?

Nein. Aber der Motor wurde schon als Rennwagenmotor entwickelt – er stammt also nicht wirklich aus einem Hansa. Aber er läuft mit normalem Superbenzin.

Manufakturen-Blog: Stoppuhr 'Forty One Le Mans' der Borgward Zeitmanufaktur (Foto: Borgward Zeitmanufaktur)

Stoppuhr ‚Forty One Le Mans‘ der Borgward Zeitmanufaktur

Und hast du das Gefühl, dass sich das Engagement für euch lohnt?

Das Auftauchen eines Borgward-Rennwagens, der auch Rennen fährt, war ein Glücksfall für uns. Wir bauen sportliche Chronographen. Wir wollen aber auch eine gezielte Sportuhren-Serie. Woher soll die Verbindung zum Rennsport kommen? Mit unserem Engagement als ‚Borgward Zeitmanufaktur Rennteam‘ tragen wir in unsere Marke sportive Leidenschaft hinein. Ich habe mich vorher immer gefragt, wie ich das Rennsportfeeling in unsere Uhrenlinie hineinbekomme – jetzt habe ich die Antwort. Und das geht nur, wenn man authentische Geschichten lebt. Ich brauchte Inspiration – ich habe Inspiration bekommen. Über das Sponsoring haben wir Ideen für neues Design gesammelt.

Wie weit ist die Sportuhren-Linie?

Das Design der ‚Borgward Forty One Le Mans‘ steht bereits. Es gibt jeweils auf 41 Stück limitierte Stoppuhren, Chronographen und Handaufzugsuhren – auch mit 24-Stunden-Anzeige.

Fotos: Jürgen Betz

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Ute Czeschka über die ‚Sächsische Weihnacht‘: „Inzwischen steht die Veranstaltung für viele Besucher fest im Kalender“

9. Dezember 2017, Meißen. Ute Czeschka, Jahrgang 1969, ist in der Manufakturen-Szene bekannt wie der sogenannte „Bunte Hund“: Agentur für Manufaktur-Marketing, Buch-Initiatorin von ‚Die feine sächsische Art – Manufakturen in Sachsen‘, Gründerin des Online-Portals Manufakturhaus.com (ausgezeichnet als besonderer Ort 2014/15 von ‚Deutschland – Land der Ideen‘), ständiges Jury-Mitglied beim Wettbewerb zum ‚Manufaktur-Produkt des Jahres‘ des Verbandes Deutsche Manufakturen

Vor zehn Jahren entwickelte sie auch noch die Idee zur ‚Sächsischen Weihnacht‘, einer Weihnachtsverkaufsausstellung für in Sachsen gefertigte hervorragende Dinge aus Manufakturen und Handwerk.

Gleich nach der ersten Veranstaltung mit 14 Ausstellern in einem Dresdner Restaurant kamen die Verantwortlichen von Schloss Wackerbarth begeistert auf sie zu und luden sie ein, die Veranstaltung aufs Schloss zu verlegen. Jetzt findet die ‚Sächsische Weihnacht‘ schon zum 8. Mal auf Wackerbarth statt, hat inzwischen an zwei Tagen achteinhalbtausend Besucher bei fünf Euro Eintrittspreis – höchste Zeit für ein Interview mit der „Macherin“ der weit über Sachsen hinaus bekannten Veranstaltung…

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Interview

Du richtest die ‚Sächsische Weihnacht‘ jetzt bereits zum 9. Mal aus, davon das 8. Mal auf Schloss Wackerbarth – wie ist Dein Resümee?

Super. Weil: Wir sind natürlich am Anfang durch ein Tal der Tränen gegangen. Wenn man solch ein neues Format entwickelt, dann ist man ja noch weit entfernt von perfekt. Wir waren nur ein kleines Team. Wir erlebten Wetterkapriolen. Wir mussten ausreichend Besucher akquirieren. Inzwischen steht die Veranstaltung für viele Besucher fest im Kalender. Und wir – was die Austeller angeht – an einem Punkt sind, dass wir sie uns aussuchen können, weil wir mehr Bewerbungen haben, als es die Ausstellungsflächen hergeben. Deshalb beginnen wir in diesem Jahr damit, einige Aussteller zu wechseln. Für die Besucher soll es interessant bleiben – obwohl ein gewisser Kern an Ausstellern immer bleiben soll.

Aber ein wechselndes Veranstaltungs-Motto gebt ihr euch deshalb nicht gleich?

Nein, die Sächsische Weihnacht muss bunt sein: Manufakturen, Schauwerkstätten, Pfefferküchler – sich im einen Jahr schwerpunktmäßig auf Schreibgeräte zu konzentrieren und im Nächsten auf Lebkuchen, das erscheint uns zu eng. Es geht vor Weihnachten für die Besucher ja auch um das Finden von interessanten Geschenken – da darf man das Angebot nicht zu eng halten. Verschiedene Materialien, verschiedene Preiskategorien, die richtige Sortimentsmischung – es muss für jeden etwas dabei sein. Es soll auch ein Schaufenster der sächsischen Handwerkskunst sein. Alle Bereiche des repräsentativen Handwerks sollen da vertreten sein.

Wieviele Aussteller gibt es dieses Jahr?

Es sind 66. Es waren auch schonmal 72. Aber in diesem Jahr haben einige einen größeren Platzbedarf angemeldet. Zum Beispiel die Porzellanmanufaktur Meissen. Wer Mitarbeiter mitbringt und zeigt, wie sein Produkt gefertigt wird, der bekommt auch mehr Platz. Denn das interessiert die Besucher sehr. So bringt Mühle eine Pinselmacherin mit, der Reifendreher Christian Werner dreht vor Ort, Herrnhuter Sterne arbeiten am Stand. Es wird gedrechselt, Porzellan bemalt, Pfefferkuchen werden verziert…

Wisst ihr etwas über die durchschnittliche Verweildauer?

Wir haben das noch nicht erhoben. Aber ich gehe davon aus, dass die meisten Besucher zwischen drei und fünf Stunden da sind. Wir bieten ja auch Gastronomie von Schloss Wackerbarth und verschiedenen Cafés, Live-Musik, Märchenlesung und Bastelbereich für Kinder – viele machen sich einfach einen schönen halben Tag bei uns.

Diese Weihnachtsausstellung unterscheidet sich von den vielen Anderen im Land durch die handverlesenen Aussteller, von denen ein großer Teil auch Manufakturen sind – wie ist das Interesse der Besucher daran? Verstehen sie den Unterschied zu den Kunsthandwerkern?

Wir haben das Kriterium, dass alle Betriebe aus Sachsen kommen. Ein Großteil sind wirklich Manufakturen – und die Anderen erstklassige Kunsthandwerker. Wir bieten das Schauhandwerk. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Weihnachtsmärkten sind 99,9 Prozent der Standflächen in geschlossenen Räumen, wir sind also wetterunabhängig, was die Ausstellung betrifft.

Ich glaube – um die Frage zu beantworten -, dass den Besuchern die Trennlinie zwischen Manufaktur und Kunsthandwerk nicht so geläufig ist. Wir bieten eine gute Mischung.

Das bietest du ja auch mit deinem Online-Handelsportal Manufakturhaus.com.

Die Unterzeile heißt: „Erlesenes deutsches Handwerk“. Es geht mir auch darum, bestimmtes handwerkliches Kulturgut zu erhalten. Das wird in Politik und Kultur inzwischen verstanden und ich bekomme viel Lob. Man sagt mir immer wieder, dass mein Projekt ein Aushängeschild für Sachsen geworden ist. Dass es mir gelungen sei, sächsisches handwerkliches Kulturgut in die Öffentlichkeit und Wahrnehmung gebracht zu haben. Und dass wir Absatzmöglichkeiten bieten, die schließlich wieder das Kulturgut zu erhalten helfen. Es haben sich auf der Veranstaltung schon viele Synergien zwischen den Firmen ergeben, sind Netzwerke entstanden, haben sich neue große Aufträge durch Besucher ergeben, die bei uns auf der Sächsischen Weihnacht waren. Das geht bis zu VW, die auf einmal etwas einer unserer Aussteller in ihrem Shop gelistet haben.

Damit beantwortest du schon die nächste Frage, die ich habe, nämlich ob die Aussteller und du – mit dem Online-Handelsunternehmen ‚Manufakturhaus‘ – durch Bestellungen während des Jahres spüren, dass sich das Mitmachen bei speziell dieser Veranstaltung lohnt.

Ja, die spüren das. Direkt bei der Veranstaltung durch tolle Kontakte, Gespräche und den Abverkauf ihrer Waren. Und ich spüre das auch. Das liegt auch an dem Ausstellerverzeichnis, das wir machen. Die Leute fahren später zu den Betrieben hin und lassen sich Sonderanfertigungen machen. Und ich höre auch von vielen meiner Kunden, dass sie auf der Sächsischen Weihnacht waren und daher mich und mein Portal kennengelernt haben.

Wohin willst du die Ausstellung weiterentwickeln?

Wir bespielen jetzt die gesamte überdachte und wintertaugliche Fläche von Wackerbarth, rund Tausend Quadratmeter. Wir werden das Profil grundsätzlich beibehalten. Was ich mir jedoch vorstelle, ist, dass man die Auswahl der Aussteller noch strikter vornimmt. Dass man Aussteller nimmt, die nicht überall auf den Märkten vertreten sind, sondern die Exklusivität noch weiter steigert. Wir wollen das Schauhandwerk noch weiter ausbauen. Einen Stand bekommt der, der seine Arbeit auch auf Wackerbarth live zeigt. Und im Außenbereich möchte ich die Kulinarik noch weiter ausbauen. Interessante Lebensmittler – „Genusshandwerker“ – in Pagodenzelten.

Was ich mir vorstellen könnte, wäre, ein Gastbundesland auf einer kleinen Fläche hinzuzunehmen: zum Beispiel „Thüringen zu Gast auf der Sächsischen Weihnacht“; oder Tschechien. Allerdings haben wir vor zwei Jahren mit der Technischen Universität Chemnitz eine Umfrage unter Besuchern und Ausstellern gemacht, die hatte als Botschaft, das Konzept unbedingt beizubehalten und nicht zu verändern.

Regionalität als Teil der Identitätssuche vieler Menschen ist also nach wie vor ein ganz entscheidender Antrieb?

Genau. Die Paarung aus Regionalität und Hochwertigkeit ist für viele Menschen spannend. Es hat auch etwas mit lokalem Stolz zu tun: Hey, so etwas Tolles wird bei mir hier in Sachsen gefertigt! Das wusste ich ja gar nicht!

Seit kurzem gibt es auch den Osterkunst- und Frühlingsmarkt auf Wackerbarth – wie entwickelt sich diese Veranstaltung?

Die Ostermesse soll ein anderes Profil haben als die Weihnachtsveranstaltung – es soll also keine Dopplung sein. Es soll noch stärker das Lausitzer Brauchtum herausgearbeitet werden. Außerdem gibt es die Kunsthandwerker aus dem Erzgebirge, die schon lange Osterhasen schnitzen.

Wir wollen es jedoch stärker mit sächsischen Designern verknüpfen. Es gibt hier eine zunehmende Modeproduktion. Manchmal ist die Osterausstellung auch eine Chance für diejenigen, die sich vergeblich auf die Sächsische Weihnacht bewerben. Man muss jedoch wissen, dass die Kaufbereitschaft geringer ist, als im Weihnachtsgeschäft, damit die Erwartungen nicht enttäuscht werden. Wir hatten in diesem Jahr 55 Aussteller, gehen jetzt ins dritte Jahr. Ich bin selbst gespannt, wohin wir diese Veranstaltung entwickelt bekommen.

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Dr. Thomas Koy: „Rückverfolgung ist eine Frage der Authentizität“

30. September 2017, Zwiesel. Wie weit treiben wir in der Nachhaltigkeit die Transparenz? Sehr weit… Die Holzmanufaktur Liebich – der bekannte Holzverpackungshersteller aus Zwiesel – teilte jetzt mit, dass ab sofort alle Kunden automatisch erfahren, woher ihr Holz im Bayerischen Wald genau stammt. Allemal Grund genug, um mit dem Inhabergeschäftsführer Thomas Koy darüber zu sprechen, warum er die GPS-Daten zum Holz auf jede Verpackung druckt.

Die Rückverfolgung – das Tracking – des Holzes bis zurück zum einzelnen Baumstumpf im Wald – wofür ist das wichtig?

Rückverfolgung ist eine Frage der Authentizität. Die Marketingbegriffe dazu sind Traceability – Rückverfolgbarkeit – und Sustainability – Nachhaltigkeit. Die kann man im Marketing gut formulieren – aber wenn man das am Gegenstand nachweisen kann, und zwar nicht bloß bis ins Bundesland, sondern bis in den Wald, ist es eben eine Art der Ehrlichkeit, die man uns als Manufaktur unheimlich abnimmt. Wir haben das für den japanischen Markt angefangen, weil die Japaner großen Wert auf die deutsche Qualitätsarbeit legen – das war für uns ein Versuch und Test, ob es funktioniert und ob es wirklich jemanden interessiert. Dann haben wir das auf die Produkte für Dubai ausgeweitet, dann auf Iran – und schließlich nun für alle. Wir staunen, aber wir kriegen eMails, in denen steht, dass die Kunden sich das tatsächlich auf Google Earth anschauen, den Wald erkunden und sich darüber freuen, dass eine weitere Beziehung zu unseren Produkten entsteht. Sie sehen München, kennen das Hofbräuhaus… und dann ist da dieser riesige schwarze Fleck daneben – das ist der Bayerische Wald, das größte zusammenhängende Waldgebiet Mitteleuropas. Und da gibt es dann diesen Punkt – da stand wirklich dieser Baum, aus dem dann die Verpackung ist, die sie in der Hand halten.

Kam die Idee aus den einzelnen Märkten? Wollten die Kunden das wirklich wissen?

Nein, denk mal andersherum. Wir wollten mit unserer Manufaktur – sie war ja früher einmal eine Holzwarenfabrik, die sogar Tropenholz mit verbaut hat – ein Alleinstellungsmerkmal erarbeiten. Wir verarbeiten nur Massivholz aus Bayern. Und wenn man diesen Anspruch nicht nur behaupten will, dann muss man die Aussage auch nachweisen können. Selbst bei Verpackungen schaut heute Foodwatch drauf und kuckt, ob sie IPPC-getrocknet sind oder ob es nach Chemie riecht und aus China kommt.

Und da haben wir also gesagt – um uns vom Wettbewerb abzugrenzen – wir werden nur heimisches Holz verwenden.

Spielt der Holzpreis keine Rolle? Ich kann mir vorstellen, dass der Wildeinschlag in Rumänien oder Weißrussland doch viel günstiger auf den Markt kommen kann…

Ja, das ist so. Das nehmen wir in Kauf. Da wir aber unser Holz auch LKW-Zugweise kaufen, reden wir vielleicht über sechs Prozent beim Rohholz. Das ist nicht so entscheidend, wie die sonstigen höheren Produktionskosten aus Personal und deutschen Löhnen, Behördenauflagen, Steuern und Overhead.

Aber du machst es, weil du die Garantien geben willst und die Kunden drauf stehen.

So ist es. Die Kunden finden ‚made in Germany‘ gut. Aber ‚made in Bavaria‘ noch besser. Und noch besser: ‚product of a German manufactory‘. Eine deutsche Manufaktur – das ist das, auf was die Kunden stehen. Und wenn die Kunden dann zu uns kommen, wie zum Beispiel Japaner, und unsere 15 000 Quadratmeter Holzgebäude sehen, sehen die hundert Hände, die mit ihren Produkten zu tun haben, die sie so oft in die Hand nehmen, bis sie perfekt und fertig sind, wie es auch nicht vollautomatisiert sein kann, wie sie durch die Handarbeitsanteile ihre Wertsteigerung erfahren – dann sind sie erst richtig glücklich und zufrieden mit ihrer Bestellung.

Gibt es auch Kunden oder Lieferanten, die es als ‚überdreht‘ empfinden, den Baumstumpf der einzelnen Tanne im Wald aufspüren zu können? Ist es für die Holzlieferanten ein Mehraufwand?

Wir haben drei Sägewerke als Holzlieferanten. Wenn sie Waren anliefern, dann müssen sie mir heute die Koordinaten jedes Einschlaggebietes geben. Da das Holz oft aus den Bayerischen Staatsforsten stammt, gibt es diese Daten dort schon, denn die brauchen das aufgrund ihrer Zertifizierung und für ihre Statistiken und die Landesämter. Die müssen sowieso nachweisen, woher das Holz, das sie verkaufen, ganz genau stammt. Der Mehraufwand für die Lieferanten besteht nur darin, mir diese Daten zu organisieren und weiterzuleiten.

Buche, Esche, Erle und Eiche kommen zu uns aus dem Spessart oder dem Main-Franken-Gebiet. Die Fichte kommt hier aus dem Bayerischen Wald aus einem maximalen Radius von 20 Kilometern rund um unsere Manufaktur. Das ist doch toll, oder? Und bei der Fichte exerzieren wir es soweit durch, dass wir mit den Kunden in ‚ihr‘ Waldstück fahren.

Aber das ist ja – in Anführungsstrichen – eine Show. Andererseits ist es aber auch ein starker Nachweis und eine Zusicherung, oder? Wenn man einen Augenblick nachdenkt, dann ist es doch nicht so albern, wie es im ersten Moment klingt.

Danke. Wir hatten amerikanische Kunden zu Gast. Mit denen bin ich in den Wald gefahren: Der Förster hat mit Hund und Stock schon auf uns gewartet. Das Waldstück wurde vorgestellt, alle Fragen beantwortet – dann sind wir zwei Kilometer gewandert, haben in einer Waldhütte gegessen und getrunken, alle haben sich nach und nach auf diesen Wald eingelassen. Sowas ist eine Geschäftsverhandlung in einer ganz anderen Stimmung. Die Kunden arbeiten ja meistens in Industriezentren – die sind schon sehr beeindruckt, die kennen doch sowas gar nicht. Wir haben dann endlich die Chance, die Stereotype wie ‚made in Bavaria‘ und ‚Manufaktur‘ mit Leben zu erfüllen.

Es gab ja mal den Werbespruch einer Bank: „Vertrauen ist der Anfang von allem“. Würdest Du eher dem Satz zustimmen: „Am Ende steht Vertrauen“?

Zutreffend ist doch auch der Klassiker: „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“.

Lenin. Aber da ist auch viel Wahres dran. Unsere Geschäftspartner vertrauen ja darauf, dass wir auch nach vielen Jahren unsere Produkte immer noch in ihrem Sinne für sie produzieren. Deshalb ist es für Manufakturen doch viel wichtiger, dass sie sich einen guten Namen erarbeiten, dass die handelnden Personen eine starke Glaubwürdigkeit haben, damit die Geschäftsbeziehungen laufen – statt zuviel Kraft in eine Marke zu stecken…

Hervorragend formuliert. Wenn man sich das Vertrauen erarbeitet hat, dann braucht man auch nicht wegen einer Preiserhöhung von 3 Prozent miteinander diskutieren. Weil der Kunde unseren Aufwand kennt, es versteht. Unsere Firma hat seit anderthalb Jahren keine einzige Reklamation – und das beim Naturprodukt Holz! Das arbeitet doch immer weiter… Das ist doch der Hammer!

Und das mit dem Namen ist genau richtig. Der Geschäftspartner muss blind wissen, dass er sich auf uns und mich verlassen kann. Diese Rückverfolgbarkeit des Holzes bis in den Wald halte ich für keine Überhöhung des Themas, sondern das ist ein Öffnen des Unternehmens hin zu Kunden und ein Werben um das Vertrauen. Und um die Geschäftsbeziehung weiterzuentwickeln, die nicht mehr auf Preisverhandlungen basiert.

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Der Berliner Thomas Koy, Jahrgang 1964, ist seit sieben Jahren Inhaber des traditionsreichen Holzpackungsherstellers Liebich im Bayerischen Wald. Der promovierte Journalist aus dem „Roten Kloster“ – so nannte man die DDR-Journalistenschule an der Universität Leipzig – änderte aufgrund der Wende-Erlebnisse seine Weltsicht radikal, geriet Anfang der 1990er Jahre in die Getränkeindustrie, hatte ein ganze Reihe von internationalen Jobs, zuletzt als Europa-Vertriebschef in Genf für einen amerikanischen Konzern.

Vor sieben Jahren stieg er aus – zog mit seiner Familie in den Bayerischen Wald nach Regen und trat per Kauf die Unternehmernachfolge an. Seitdem blüht Holz-Liebich wieder richtig auf: 50 feste Mitarbeiter, weltweite Aktivitäten bis Japan und Iran; das alte Werk wurde zu klein – Koy baute im benachbarten Zwiesel das größte Werk in Holzbauweise in Deutschland (15 000 Quadratmeter); gerade wurde die Baugenehmigung zur Erweiterung erteilt. Die Marke heißt nun auch ‚HOLZ.LIEB.ICH‘. Inzwischen ist er ‚Botschafter Niederbayerns‘, darf mit auf die großen wirtschaftspolitischen Podien…

Als CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer seinen Betrieb besuchte, hatte er einen Mitgliedsantrag für die CSU dabei. Koy: „Sie wissen schon, dass ich als Stundent Mitglied in der SED war?“ Scheuer: „Frühere Kommunisten werbe ich am Liebsten!“

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Der Journalist Martin Specht: Manufakturen, Handwerk, Drogen, Krieg

05.02.2017, Wuppertal. Ehrlichgesagt, habe ich einfach Lust, zum Jahresbeginn mal ein paar Fotos zu zeigen. Meiner Meinung nach gute Fotos, teilweise noch nie veröffentlicht, aus der Manufakturen-Szene. Sagt man Fotos – fragt man nach dem Fotografen. So schreibe ich einfach einmal über Martin Specht, einen international tätigen und in Fachkreisen bekannten Fotografen und Journalisten, dessen Bilder in vielen renommierten Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind – von BILD über STERN und NEW YORK TIMES war alles dabei.

Ich mag Martin Spechts Fotos und seine Art zu schreiben und zu erzählen. Gerade die Texte seiner bisherigen Bücher klingen nach „C‘est la vie“ – jedoch ohne demonstrierendes Achselzucken. Seine Fotos haben einen erzählenden Stil – meistens actionreich, manchmal sind sie auch nur traurig und leer. Oder doch sehr cool.

Kennengelernt habe ich ihn im Dezember des Jahres 1990, als er mich für die BILD-Zeitung mehrfach porträtierte. Die Fotos haben mir so gut gefallen, dass ich mich von ihm später für meine Eltern fotografieren ließ – mitten in Halle an der Saale auf dem Marktplatz. Meine Eltern sollten Fotos von ihren Kindern zur Silberhochzeit bekommen. Ich wollte eins mit Tageslicht. Es war ungewohnt, vor all den Passanten auf dem Markt immer wieder die Brille abzunehmen und im richtigen Winkel vor das Gesicht zu halten – so, wie es Martin gefiel; und es galt noch das Vertrauen in den Fotografen, denn es gab ja noch keine Digitalkameras, auf deren Bildschirmen man die Meinung des Fotografen kontrollieren konnte. Martins damaliges Foto hängt heute noch zusammen mit den Anderen bei meinen Eltern im Wohnzimmer…

Dann ging es um die Jurysitzung zum „Manufakturprodukt des Jahres 2014“ sowie das 6. Zukunftsforum Deutsche Manufakturen bei Weigang im fränkischen Ebern – wer soll es fotografieren? Aus irgendeinem Grund dachte ich an Martin Specht, obwohl wir bestimmt fünfzehn Jahre keinen Kontakt mehr hatten. Google brachte seine Internetseite, über sein Satellitentelefon erwischte ich ihn bei der Arbeit in Afghanistan – wir verabredeten uns zum Telefonieren nach seiner Rückkehr.

Erstaunlicherweise waren die Aufträge trotz seiner Internationalität für uns bezahlbar. Martin Specht sagt dazu nur: „Ich freue mich ehrlichgesagt über jede Anfrage, versuche es immer möglich zu machen.“

Martin Specht wurde im Jahr 1964 in Wuppertal geboren, wo sein Vater bis vor kurzem ein Architekturbüro betrieb, wuchs dort auf – und lebt heute wieder dort. Seine Karriere begann im Jahr 1989 mit dem Porträtieren des Zusammenbruchs des Ostblocks, er ging dann mit den Amerikanern in den Irak, war auf dem Balkan, an vielen Brandherden in Afrika. Im Jahr 2005 dokumentierte er für die Vereinten Nationen die Hungersnot in Niger und das Erdbeben in Pakisten, lebte jedes Jahr mehrere Monate beruflich in Bagdad.

Dann immer wieder Afghanistan. Etliche Male war er bei der Jagd auf Osama bin Laden dabei, begleitete das Marine-Corps bei ihren Luftlandeoperationen (er erhielt im Jahr 2014 für eine Reportage von den Marines den ‚Sergeant Major Dan Daly Award‘).

Bei einer Reportage in Südfrankreich über ein Altersheim für Deutsche, die in der französischen Fremdenlegion gedient haben, entstand die Idee zu seinem ersten Buch: ‚Heute trifft es vielleicht dich – Deutsche in der Fremdenlegion‘, über eine Reportage und sein Leben bei Mara-Jugendgangs in Guatemala entstand die Idee zum Buch ‚Narco Wars‘, dann kam ein Ghostwriting des Weges…

Martin Specht wurde für den Henry-Nannen-Preis nominiert, stand auch auf dessen Shortlist – neben Grimme die höchste Auszeichnung, die man in Deutschland als Journalist erfahren kann. Dann seine Nominierung zum Prix Bayeux-Calvados, dem französischen Kriegsberichter-Preis.

Manufakturen-Blog: Selfie von Martin Specht in Mossul (Irak) während der Offensive im Dezember 2016 (Foto: Martin Specht)

Manufakturen-Blog: Selfie von Martin Specht auf den Ölfeldern von Qayyra (Irak) während der Offensive im Dezember 2016 (Foto: Martin Specht)

In Ebern holte ich ihn an einen Tisch mit Lothar Göthel, Inhaber der Spezial- und Gerätetaschen-Manufaktur SGT / Ars Galea im sächsischen Burkhardtsdorf. Göthel produziert auch die von ihm entwickelten schussicheren Kevlar-Westen für viele Spezialkräfte – unter anderem für israelische auf den Golan-Höhen, die die teure Besonderheit haben, dass sie die Einzigen sind, die den Beschuss der Kalaschnikov aushalten – dem Standard-Sturmgewehr mit der höchsten Geschoss-Mündungsgeschwindigkeit (bei ca. 900 km/h). So fand ein interessantes Gespräch statt über Militärtechnik und Notwendigkeiten und ich musste an Fotos von Martin aus Afghanistan oder dem Irak denken, an dem er als Einziger unter lauter Marines seinen bevorzugten Delta-Force-Helm trägt. Der Helm hat eine steilere Front, vor der man mit einem Fotoapparat besser operieren kann. Göthels Weste trägt Specht übrigens nicht – sie ist von den Standard-Kräften nicht zugelassen, denn Kevlar ist nicht stich-, sondern nur schussfest. Aber die Spezialkräfte schert das nicht, sie schätzen deren andere Vorteile…

Im Sommer 2015 haben Martin Specht und ich dann ein Projekt begonnen – Fotoreportagen über Manufakturen in Bremen und Niedersachen, in unserer Freizeit. Wie die sogenannte Wilhelm-Wagenfeld-Tischleuchte bei Tecnolumen montiert wird, die Besteckproduktionen von Wilkens und Koch & Bergfeld arbeiten, wie Lautsprecher bei Ceratec Audio Design zusammengesetzt werden…

Irgendwann wird es fertig und ergibt ein Buch.

Den Fotos aus der Manufakturen-Branche habe ich Fotos aus zwei seiner Reportagen gegenübergestellt: Eine über die Wayuu, ein indigenes Volk in Kolumbien, das die bekannten Mochila-Taschen fertigt; sowie die Bilder von einer Reportage aus der Gegend der umkämpften Stadt Mossul im Irak – beide aus dem Jahr 2016. Im Anschluss an Martin Spechts Fotos können Sie ein Gespräch lesen, das ich im Dezember 2016 mit ihm geführt und aufgezeichnet habe.

 Fotos aus der Manufakturen-Branche (aus den Jahren 2014-15):

Reportage über die Produktion der traditionellen ‚Mochilas‘ (Taschen) durch das Volk der Wayuu in Nordkolumbien:

Fotos aus der Reportage vom Beginn des ‚Sturms auf Mossul‘, der letzten Millionenstadt in den Händen des IS – von Martin Specht im Dezember 2016:

Im Gespräch mit Martin Specht

„Zugang zu Menschen zu finden, ist das Aufwendigste, Wichtigste und Entscheidende“

Wigmar Bressel: Wie siehst du dich?

Martin Specht: Von heute aus betrachtet sehe ich mich vor allem als Autor der drei Bücher, die ich in den vergangenen drei Jahren veröffentlicht habe – zwei zur Fremdenlegion, eins zu den weltweiten Drogenkriegen.  Bei mir geht es in meiner Karriere immer um Reportagen. Ich habe in den vergangenen 15 Jahre überwiegend beides gemacht – Texte und Fotos. Bei mir geht es immer um die Themen, unabhängig davon ob es in der Textsprache oder der Bildsprache stattfindet. Ich sehe mich schon als Journalist und Autor, der mit sehr verschiedenen Themen zu tun hat.

Aber du lässt dir die Themen doch durch die Auftraggeber vorgeben?

Beides. Ich entwickele selber Themen und schlage diese möglichen Auftraggebern vor – also Verlagen oder Redaktionen. Für mache Themen werde ich beauftragt – aber es ist eine Kombination aus beidem.

Gibt es Themen oder Geschichten, die du abgelehnt hast?

Nein, eigentlich nicht. Ich werde aber fast auch nur für die Themen beauftragt, bei denen man denkt, dass ich die Kompetenz dafür besitze. Manche Dinge sind trivialer als andere oder weniger komplex – aber im Grunde ist das Meiste schon interessant.

Warst Du schon überall auf der Welt? Warst Du auf allen Kontinenten?

Australien noch nicht. Viele Themen spielten in Afrika. Der Mittlere Osten natürlich, Lateinamerika, USA.

Europa sowieso.

Europa ist ja Lebensmittelpunkt.

Ist es für einen Journalisten heute egal, wo er lebt? Ist es egal, ob Wuppertal oder Berlin?

Ich denke, in einer globalisierten Welt und mit Zugang zu einem internationalen Flughafen, den es hier in der Nähe gibt, ist es ziemlich egal, wo man lebt. Ich muss nicht täglich irgendwelche Leute treffen, die ich nur an einem bestimmten Ort antreffe. Im Gegenteil – ich bin ja viel unterwegs…

Ist Wuppertal ein Rückzugsort, ein Refugium?

Für mich ist es Heimat. Ich habe hier meine Eltern, ich habe hier Freunde… Als Rückzugsort betrachte ich es nicht. Hier umgibt mich natürlich viel Vertrautes. Wenn ich über die Straße gehe, dann treffe ich Freunde, Bekannte. Ich lebe hier, ich arbeite hier, ich schreibe hier überwiegend an den Büchern…

Man könnte ja sagen, man wählt sich Wuppertal, um ein bisschen abgeschieden zu sein…

Ich sehe das nicht so. Ich lebe hier ganz komfortabel. Wenn ich arbeite, sitze ich vornehmlich in meinem Arbeitszimmer und würde dann auch nicht durch Berlin-Mitte schlendern. Also ich glaube es ist egal, in welcher Stadt ich in Mitteleuropa lebe.

Du bist ja dein ganzes Leben schon selbständig, warst auch noch nie angestellt – ist das wichtig für das Lebensgefühl des Journalisten Martin Specht?

Das hat sich einfach nur nie anders ergeben. Ich habe es mir nicht frei gewählt. Es ist so wie es ist – ich musste mich nie entscheiden.

Was ist das Spannendste, was du gemacht hast?

Immer das Nächste… Lateinamerika beschäftigt mich natürlich sehr. Das hängt sehr mit der Herausforderung zusammen. Das, was vor mir liegt, ist spannend, weil mich die Frage sehr beschäftigt, ob es mir gelingt, das neue Thema umzusetzen. Ich begegne Menschen, ich komme an fremde oder neue Orte – von daher ist das vor mir Liegende und Unbekannte immer das Spannendere.

Du hast viele Reportagen gemacht an aus der Sicht der Allgemeinheit sehr gefährlichen Orten. Und das ist ja eine Entscheidung zu sagen: Ich bin bereit, mitten in den Irak-Krieg zu gehen, ich bin bereit, in Afghanistan bei der Jagd auf Osama bin Laden mitzumarschieren, Motive zu suchen und zu finden, bei der man ja doch unter einer akuten Bedrohungslage ist. Da gibt es Schießereien und Querschläger – du hast mir mal geschildert, wie du mehrfach für mehrere Stunden unter Beschuss lagst. Man könnte sich ja auch sein Brot mit Reportagen verdienen, die eine viel höhere Wahrscheinlichkeit haben, dass einem nichts passieren kann…

Kann schon sein. Ich denk natürlich, dass man das macht, was man am besten kann und im Optimalfall, was einen interessiert. Diese Frage der Gefahr oder Nichtgefahr… Natürlich ist es gefährlich. Andererseits ist es dadurch natürlich auch interessant.

Dieses Interview in Deinem Buch ‚Narco Wars‘ mit dem Auftragskiller – wie geht man in solch ein Thema rein? War das Erfahrung? Hattest du ein ausreichend beruhigendes Bauchgefühl? Oder hattest du dabei Angst? Man will ja nicht vorgeführt bekommen, wie Menschen ermordet werden, möchte auch nicht selbst zum Abschluss ermordet werden…

Ach Angst eigentlich nicht. Das war spannend. Jedesmal ist es auch wieder neu. Dieser Begriff der ‚Erfahrung‘ ist nur relativ zu nutzen. Auch wenn ich mich seit Jahren in diesen Ländern bewege, ist der Unberechenbarkeitsfaktor doch hoch. Jedesmal ist wieder neu. Ich versuche mich nicht mit ‚Erfahrung‘ in falscher Sicherheit zu wiegen. Bei manchen Leuten habe ich ein gutes Gefühl – wie bei jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Bei anderen Leuten denke ich: Okay, besser etwas vorsichtiger. Bei Kriminellen bin ich generell sehr vorsichtig – sie sind eben kriminell…

…du hast doch auch mal diese große Mara-Reportage gemacht…

…genau, diese Leute sind kriminell, sie sind zum Teil auch drogenabhängig und wissen auch nicht immer, was sie tun. Und mögen auch nicht immer Journalisten. Manchmal ja, manchmal nein. Das kann sich ändern und kippt dann auch schon mal während der Reportage, es kann sich im Zuge einer Begegnung schlagartig ändern. Ich bin grundsätzlich schon vorsichtig.

Aber man kann ja solch einer Situation dann oft nicht schnell entkommen.

Man muss den Leuten begegnen und sich anhören, was sie zu sagen haben.

75 tote Journalisten im Jahr 2016.

Ja, es werden jedoch überwiegend die Journalisten umgebracht, die permanent in diesen Ländern leben. In Mexiko zum Beispiel. Für mich, der ich mich dort maximal zwei-drei Monate aufhalte, sehe ich das nicht so als Problem. Aber für die, die da wirklich leben, mit ihren Familien, bekannt sind. Und die Drogenkartelle besitzen natürlich auch Radio- und Fernsehsender. Der von mir in ‚Narco Wars‘ beschriebene und sehr bekannte ‚Drogenbaron‘ Pablo Escobar war Herausgeber einer Zeitung, des Medellin Civico – von daher sind dann auch die Journalisten, die für diese Medien arbeiten, Teil des Geschehens.

Du beschreibst eine Szene in Mexiko, in der du mit einem Informanten unterwegs bist. Dann passiert etwas in einer Seitenstraße. Ihr haltet an, macht ein paar Fotos – dann entscheidet ihr, doch weiterzufahren, weil die Situation „aggressiv“ wurde. Lebt der Informant noch, hast du zu ihm noch Kontakt?

Ja, tut er. Ich versuche grundsätzlich, den Kontakt zu allen Informanten zu halten, so gut es geht. Vor allem natürlich zu den Informanten, die mir sehr geholfen haben. Das ist auch für mich wichtig. Für mich enden Geschichten ja nicht nach einer Veröffentlichung – ich komme da immer wieder drauf zurück, nutze Informanten wieder, wenn ich wieder in das Land komme.

Das Wichtigste sind für Dich und Deine Kontakte also funktionierende Kontakte.

Zugang zu Menschen zu finden, ist das Aufwendigste, Wichtigste und Entscheidende – und die halte ich dann natürlich auch.

Wird dir in diesen Ländern immer geglaubt, dass du Journalist bist? Oder wird manchmal auch vermutet, dass du doch für einen ausländischen Dienst arbeitest?

Wenn man es vermutet, vermutet man es – aber ich glaube eher nicht. Ich bin eher der nette deutsche Journalist.

Du machst gerade ein Buch für den Ch. Links Verlag über Kolumbien – das Land. Was gibt es zu entdecken?

Die Kultur, die Geschichte – es hängt natürlich auch wieder eng mit der Drogenproblematik zusammen. Es gibt da aber viele Gebiete, die angenehm und interessant sind und in denen man sich bewegen kann. Die Natur ist grandios. Das Problem ist allerdings, dass es schon schlagartig unangenehm werden kann, wenn man die touristischen Pfade verlässt. Sich in den großen Städten aufzuhalten, ist meiner Meinung nach kein Problem – oder an der Karibikküste. Da gibt es wirklich nette Orte, da kann man Urlaub machen.

Wenn du jetzt nach Medellin zurückkehrst, um an dem Kolumbien-Buch weiterzuarbeiten – hat das dann jemand mitbekommen, dass ‚Narco Wars‘ erschienen ist?

Ja, ich habe darüber sogar dort an der Universität von Antiochia mit Studenten diskutiert. Das wissen die Leute schon.

Und wie sehen die Studenten das so?

Für die heute Anfang bis Mitte Zwanzigjährigen sind Pablo Escobar und das Medellín-Kartell Geschichte. Sie wissen natürlich, dass es immer noch Drogenkriminalität in großem Stil gibt, aber die ist heute weniger auffällig, verborgener. Das spektakulärere Geschehen findet inzwischen in Mexiko statt. Natürlich hängt es zusammen. Für die Studenten ist der Friedensprozess mit der FARC und der ELN ein wichtiges und vieldiskutiertes Thema.

Du warst jetzt ja gerade wieder im Irak, warst beim sogenannten ‚Sturm auf Mossul‘ dabei, sagst: Es ist dort so kaputt, wie noch nie.

Es wird immer kaputter.

Du erzählst, dass es in der arabischen bzw. islamischen Welt eine große Unruhe gibt, die du mit einem dritten Weltkrieg vergleichst, da die schweren bewaffneten Auseinandersetzungen sich quer durch Afrika über den Golf bis nach Pakistan ziehen.

Also für die muslimische Welt ist es im Moment schon wie ein Weltkrieg. Die massiven Zerstörungen. Die ständige Angst, Bombardements und Beschuss ausgesetzt zu sein, der Willkür des Krieges, jedes Sicherheitsgefühl verloren zu haben. Das erzeugt die großen Flüchtlingsbewegungen: Syrien, Irak, Afghanistan, Jemen – selbst Pakistan. Einige dieser Staaten scheinen auch zu zerfallen. Kein Mensch weiß, wie lange es den Irak noch geben wird. Die Folgen sind schon gravierend.

Wie sehen denn deine Informanten und Kontaktpersonen die Situation? Sie erleben ja die Zerstörung ihrer uralten Kulturen und Landschaften. Fordern sie von uns mehr Engagement? Oder sollen wir uns raushalten?

Ich glaube, in Syrien und im Irak haben sich schon viele Menschen ein stärkeres Eingreifen und Engagement des Westens gewünscht.

Das sind ehemalige Kolonien – es gab ja früher kaum nicht-kolonialisierten Raum…

Man darf nicht vergessen, dass ein Teil dieser Länder zuvor Gebiete und Regionen des Osmanischen Reichs waren oder zu dessen Einflussbereich gehörten – denn die osmanischen Sultane waren ja auch kolonial; sogar imperial, wenn man will. Es war nicht nur Europa, das Kolonien unterhielt.

In Mali hat der überwiegende Teil der Bevölkerung das Eingreifen der früheren Kolonialmacht Frankreich begrüßt. Mali hatte keine richtige Armee. Es gab da trotzdem einen Militärputsch, der das Land aber so geschwächt hat, dass diese fundamentalistischen Milizen im Anschluss weite Teile erobern und sich dort halten konnten. Mali hatte dem nichts entgegenzusetzen, keine echte Armee, die denen hätte begegnen können. Das ging nur mit Hilfe von außen.

Ist die Idee vom Nationalstaat für diese Regionen noch zeitgemäß?

Die Kulturen sind alt, die Völker, die dort leben, sind da schon sehr lange und viel länger, als die in der jüngeren Vergangenheit willkürlich mit dem Lineal auf Karten gezogenen Grenzen. Der Staat wird überall dort Bestand haben, wo er von der Bevölkerung als positiv angesehen wird. Aber wenn der Staat nur so wahrgenommen wird, als wäre er mit Checkpoints überzogen, wo mir auch noch Geld abgenommen wird, wenn ich von einem Ort zum Nächsten fahren will. Der korrupt ist und dann noch dem erstbesten Feind, wie dem IS, ein Drittel des Landes kampflos überlässt – da stellen sich viele Menschen die Frage: Was bindet mich an diesen Staat?

Wo starke ethnische Konflikte vorhanden sind, wo Korruption herrscht oder der Staat schlicht unfähig ist – diese Staaten werden meiner Meinung nach wieder zerfallen.

Wie groß ist deiner Meinung nach das Kurden-Thema für die nördlichen Teile der damit konfrontierten Staaten – glaubst du, dass es einen Kurdenstaat geben wird?

Hängt davon ab, wer sich dafür interessiert und einsetzt. Die Kurden versuchen das seit vielen Jahren, haben jetzt eine Autonomie im Nord-Irak. Es ist meiner Meinung nach eher eine wirtschaftliche Frage. Und: Wer würde ihn anerkennen? Ohne das geht es ja auch nicht. Wenn die Kurden morgen einen Staat ausriefen und Krieg mit der Regierung in Bagdad – an der sie ja beteiligt sind – darüber führten, dann wäre es doch die Frage, wer diesen neuen Staat anerkennen würde.

Die Türken werden es nicht anerkennen.

Die Türken werden es nicht anerkennen.

Ich weiß es nicht. Es hängt auch davon ab, wie sich der Irak weiterentwickelt. Es gibt bestimmt Gruppen, die es wollen. Es gibt Andere, die es nicht wollen. Es reduziert sich auf die Frage: Wer erkennt ihn an und wer würde ihn schützen.

Also hängen die Kurden doch von unser aller Haltung ab – und weniger von sich selbst.

Ich würde es sagen, ja. Die kurdische Armee hat keine schweren Waffen…

…weil sie ihr auch keiner gibt.

Genau. Im Moment sind die Kurden wichtig als Verbündete im Kampf gegen den IS. Aber die Städte Erbil und Kirkuk sind auch Wirtschaftsstandorte und Machtzentren, Kirkuk hat Öl. Durch sie läuft der Handel mit der Türkei. Andererseits hat Kurdistan auch viele Parteien mit unterschiedlichen Interessen – das ist auch keine einfache Ausgangslage. Aber ich kann es echt nicht einschätzen, wie das ausgeht.

Nationalstaaten oder größere Staaten bieten ja auch Chancen. Im afrikanischen oder afghanischen Stammes-Flickenteppich – ohne Nationalstaat als Klammer – gäbe es dann für viele Volksgruppen eben keinen Zugang zu Universitäten, kein funktionierendes Versicherungssystem, vielleicht keine Krankenhäuser. Wenn die Masse des Steueraufkommens zu gering ist, funktionieren viele Sozial- und Infrastrukturleistungen nicht, sie können nicht stattfinden.

Ja, das ist so.

Was gibt es für eine Geschichte, die du noch unbedingt machen musst? Zur ISS hochfliegen?

Schön wär’s… Ich würde gerne. Bestimmt interessant. Der ferne Blick. Auf die Erde. Aufs Ganze.

Aufgezeichnet am 19. Dezember 2016 bei Martin Specht in Wuppertal in der Küche sitzend und Kaffee trinkend, nachdem wir auf meinen Wunsch die erste Fahrt meines Lebens mit dieser weltberühmten Schwebebahn gemacht haben – aber auch Martin Specht war von der Tour begeistert: „Hey, das sind ja die neuen Wagen. Die sind gestern erst indienstgestellt worden – mit denen bin ich auch noch nicht gefahren!“

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Dr. Birgit Bornemeier: „Kaum jemand hat bereits deutsche Whiskys probiert oder weiß von der Vielfalt an Angeboten“

17. November 2016, Detmold. Auf dem 1. Brandenburger Manufakturentag habe ich Single Malt Whisky mit dem schönen Namen „Der Kolonist“ von der Burger Hofbrennerei  getrunken. Eindeutig ein Single Malt – aber doch ganz anders, als die bekannten Schotten. Welche Chance hat wohl ein dreijähriger Brandenburger Whisky auf dem Markt, zumal mit einem Preis von EUR 48,00?  Jetzt naht die Messe ‚Bottle Market‘ (18.-20. November 2016) in Bremen. Vor einem Jahr habe ich Dr. Birgit Bornemeier auf dieser Messe kennengelernt – eine der Fachleute in Deutschland für Whisky. Denn die promovierte Geographin aus Detmold führt seit vielen Jahren erfolgreich ihr Reiseunternehmen ‚Reisekultouren‘, das sie gründete, um Whisky-Genießer quer durch Schottland und die Welt zu lotsen. Ich habe sie angerufen und zu deutschem Whisky interviewt.

Frau Dr. Bornemeier, ist deutscher Whisky inzwischen für den erfahrenen Whiskytrinker ‚interessant‘?

Dr. Bornemeier: Das Spannende am Whisky ist die extreme Vielfalt. Wer „nur“ schottisch trinkt, der verpasst etwas.

Wir sind als Reiseveranstalter auf Whiskyreisen spezialisiert. Qualität und Geschmack der Destillate sind für unsere Arbeit natürlich wichtig, denn sie sind der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich das Interesse der Genießer verankert. Für mich zählt jedoch insbesondere der Erlebniswert: Wer sind die Macher? Wie kommen sie dazu, ausgerechnet Whisky herzustellen und wie genau wird produziert? Was ist das Besondere der jeweiligen Destillerie? Das ist für mich als Reiseveranstalter wichtiger als eine tasting note, denn Aromen kann man auch zuhause auf dem Sofa entdecken, dafür braucht es keine Reise. Viele deutsche Brenner sind sehr kreativ, experimentieren mit Getreide, mit Torf oder legen den Whisky einfach mal im Watt vor Sylt in den Schlick.

Ich komme aus der Geographie und erlebe Whisky als ‚Landeskunde im Glas‘. Whisky spiegelt ein Stück weit die Region, aus der er stammt. Deutschland ist meines Erachtens im Zusammenhang mit Österreich, Liechtenstein und der Schweiz zu sehen. In diesen Ländern gibt es eine lange Tradition speziell für Obstbrände, die ein sehr sauberes Verfahren und viel Expertise voraussetzen. Unsere Brenner steigen also auf einem hohen Level in die Whiskyproduktion ein. Zudem ist die Brenntechnik eine andere und dies bedingt andere Geschmacksnoten und Charakteristika. Es geht nicht darum, einen schottischen Whisky zu kopieren. Wer das erkennt und offen für Neues und Anderes ist, kann im deutschsprachigen Raum viel Interessantes entdecken.

Wie sehen Sie den Whisky-Produktionsstandort Deutschland – im Vergleich zu Schottland, den USA oder Japan?

Deutschland hat sich als Whisky-Produktionsstandort in den letzten Jahren zunehmend etabliert. Als ich vor 10 Jahren begann, Whiskyreisen anzubieten, da war deutscher Whisky auf Fachmessen kaum ein Thema. Konnte jemand fünf Brennereien benennen, dann war das viel. Hatte tatsächlich jemand probiert, dann tendierte das Feedback oft in Richtung „untrinkbar“. Dabei klangen noch viele Vorurteile durch. 2013 präsentierte der Kartenverlag Alba Collection dann seine erste „D-A-CH“-Whiskykarte und visualisierte damit eine unglaubliche Zahl von zunächst 161 Whisky produzierenden Betrieben. Auf der Karte, auf Messen und in den Medien wurde deutscher Whisky sichtbar und das Interesse nahm in der Folge spürbar zu. Inzwischen sind auf dieser Whiskykarte 260 Betriebe verzeichnet, davon allein 170 in Deutschland.

Manufakturen-Blog: die Whisky-Destillen-Karte für Deutschland, Österreich und die Schweiz von Alba Collection (Foto: Alba Collection)

Manufakturen-Blog: die Whisky-Destillen-Karte für Deutschland, Österreich und die Schweiz von Alba Collection (Foto: Alba Collection)

Mittlerweile ist deutscher Whisky in der mental map der deutschen Whiskyenthusiasten, auf Whiskyfestivals, in Bars und heimischen Barschränken angekommen. Dahinter steckt mächtig viel Engagement seitens der Macher, die notwendige Zeit zur Reife der Destillate, natürlich viel Marketing und Öffentlichkeitsarbeit – aber auch ein „drink local“ und die Neugierde der Konsumenten. Dabei darf man die Größe der Betriebe nicht außer Acht lassen: Im Vergleich von D-A-CH mit Schottland tritt David gegen Goliath an. Ich habe in der Schweiz Brennereien gesehen, wo zwei Fässer Whisky neben einer Kiste Cola und den Nutella-Gläsern der Familie lagern. Ich war im Fasslager des größten deutschen Whiskyproduzenten, in dem noch eine Extra-Balkenlage direkt unter dem Dach eingezogen wurde, um den nötigen Platz für Emmer- und Dinkel-Whisky zu schaffen. Gegen Giganten wie Glenfiddich oder Glenlivet ist das alles „micro“ und oft experimentell. Gerade das macht den besonderen Reiz aus. Die Stärke des deutschsprachigen Raumes sehe ich in der Brenntradition, die in Familien seit Generationen gepflegt wird. Das ist etwas Besonderes.

Hervorragender, guter und weniger guter Whisky wird mittlerweile in unzähligen Ländern produziert. In Schottland produzieren im Moment 115 Betriebe, in Irland 18. Beide Länder werden i.d.R. an vorderster Stelle genannt, wenn es um Whisky geht. Dann folgen USA und Japan.

Kürzlich ist eine USA-Whiskykarte erschienen. Dass es dort viele Produzenten gibt, ist bekannt, doch eine Zahl von über 800 Brennereien erstaunt dennoch. Japanischer Whisky erlebte im Herbst 2014 einen überraschenden Hype. Internationale Medien

hatten eine Pressemitteilung des Whiskyexperten Jim Murray aufgriffen, der ein spezielles Bottling von Yamazaki als weltbesten Whisky auszeichnete. ZEIT- wie BILD-Leser wussten plötzlich, dass japanischer Whisky viel besser sei als schottische Brände – und generalisierten. Whiskyshops wurden daraufhin über Nacht mit sprunghaft gestiegener Nachfrage konfrontiert und Japan war in aller Munde. Dass auch in Indien und Taiwan sehr viel beziehungsweise guter Whisky hergestellt wird, damit kann man selbst Besucher von Fachveranstaltungen, wie den einschlägigen Whiskyfestivals, immer noch überraschen.

Wir haben für unsere Reisegäste einmal ein Tasting mit Jim Murray arrangiert, für das Whiskykenner und Enthusiasten aus ganz Deutschland den weiten Weg zu uns in den Teutoburger Wald reisten. Es war ein blind tasting. Von 100 Gästen hatte niemand zwölf Richtige. Wir fragten lediglich nach Produktionsländern, nicht nach Whisky-Destillerien! Die meisten tippten im Zweifelsfall auf Schottland. Peated Malt muss von Islay sein und wenn ihn ein Jim Murray präsentiert, dann ist es bestimmt ein Ardbeg… Was beeinflusst den individuellen Geschmack? Die romantisierte Fasslagerung im Warehouse am Meer oder Wasser, das durch Islay-Torf sickerte? Die Grenzen sind in den Köpfen.

Ist Whisky Ihrer Meinung nach ein kurzeitiger Hype? Oder ist das Entstehen von immer mehr Destillen nachhaltig?

Für einen Hype hält die Nachfrage schon zu lange an und das rasante Wachstum von neuen Destillen und Erweiterungen geht weiter. Das Rechercheteam von Alba Collection meldete gerade für Schottland 37 und für Irland 23 Neubauprojekte. Auch neue Whiskyevents und Messen entstehen überall und es ist kein Ende in Sicht. Auf der anderen Seite hört man in der Szene längst Stimmen, dass es nicht ewig so weiter gehen kann und sehr bald ein Kollaps einsetzen wird.

Es gibt sicherlich einen breiten Markt von Whiskykonsumenten, die Whisky trinken, weil es gerade ‚in‘ ist oder mal reinschnuppern, weil sie darauf aufmerksam wurden. Andere sammeln – entweder aus Passion oder als Geldanlage. Für die Mehrzahl unserer Gäste ist Whisky jedoch viel mehr, als nur ein Hobby. Es ist ein genussvoller Lebensstil. Das Thema ist ziemlich komplex und wer sich auskennen möchte, der wird viel lesen, viel fragen und eine Menge Zeit und Geld investieren.

Welche Anforderungen müssten deutsche Whisky-Destillen erfüllen, damit es für ein professionelles Reiseunternehmen wie Reisekultouren interessant wird, diese „anzusteuern“?

Erlebniswert und Exklusivität. Eine einzelne Destillerie mit Besucherzentrum und zwei bis drei Tastingvarianten ist im Rahmen einer klassischen Busrundreise ein Programmbaustein oder ein Schwerpunktbesuch. Das gilt in Schottland wie in Deutschland, doch das ist nicht unser Markt. Unsere REISEKULTOUREN-Signature-Tours gehen das Thema Whisky sehr viel spezieller an. Für die Reisetechnik ist wichtig, dass sich mehrere Betriebe zu einer inhaltlich interessanten und abwechslungsreichen Tour vernetzen lassen, ohne dass allzu große Distanzen überbrückt werden müssen. Insbesondere in Süddeutschland wäre das möglich. Es gibt bereits Wanderungen, die mehrere Destillerien als Tagesprogramm gemeinsam auflegen. Das ist eine prima Idee, doch hierfür braucht man keinen Reiseveranstalter wie uns. Solche Angebote werden in der Regel von Gästen direkt gebucht, zumal wir in Deutschland keine Hemmschwelle wie Sprachbarrieren oder das Fahren auf der vermeintlich falschen Straßenseite haben.

Der Erlebniswert ist wichtig und da sind der Kreativität kaum Grenzen gesetzt. Doch ohne eine Exklusivität im Produkt werden wir von Direktbuchern kopiert. Interessant wären für uns also Angebote, die sich exakt am Interesse unserer sehr interessierten Gäste orientieren und die tatsächlich ausschließlich über uns buchbar sind.

Können sich deutsche Destillen bei Ihnen darum bewerben, als Reiseziele aufgenommen zu werden? Wäre das nicht für ausländische Whisky-Fans spannend? Kurz: Wann nimmt Reisekultouren die erste geführte Reise zu deutschen Destillen ins Programm auf?

Gegenfrage: Sind Sie der Meinung, dass deutscher Whisky im Ausland bereits ausreichend bekannt ist, um ein thematisches Reiseinteresse auszulösen? Ich habe oft Samples von D-A-CH-Whisky- bzw. deutsche Whiskykarten bei mir, wenn ich in Schottland reise. Damit kann man stundenlange Gespräche anzetteln, denn kaum jemand hat bereits deutsche Whiskys probiert oder weiß von der Vielfalt an Angeboten. Wenn eine Flasche in einem spezialisierten Pub oder einer Bar steht, dann hat sie meist ein Gast mitgebracht. Ich werde dann oft geneckt, ich würde Eulen nach Athen tragen oder, wie man in Schottland sagt, Kohlen nach Newcastle.

‚Reisekultouren‘ ist Fördermitglied im Verband Deutscher Whiskybrenner und ich freue mich sehr über Kooperationsinteresse von Seiten der deutschen Whiskyszene, zumal auch bereits viele Destillateure eine meiner Studien- und Fachstudienreisen wahrgenommen haben. Wir sind durchaus schon im deutschsprachigen Raum aktiv und bieten Reisen zu den deutschen Whiskyfestivals an, auf denen immer mehr deutsche Brennereien ausstellen. Ergänzend haben wir einen Whisky- und Gin-Destillationsworkshop im Oberrheintal im Programm. Eine PKW-Rundreise zum Thema Alpine Whisky haben wir bereits 2012 entwickelt, noch bevor die Whiskys aus der Schweiz und Österreich Importeure in Deutschland hatten. Mittlerweile ist sie allerdings wieder offline gesetzt, da es gar keine Nachfrage gab.

Für eine geführte Reise zu den Destillerien im deutschsprachigen Raum habe ich bereits eine konkrete Idee zum Tourverlauf und kann versprechen, dass es ‚Landeskunde im Glas‘ sein wird, bei der wir die besonderen Facetten des deutschen Whiskys herausarbeiten werden. Doch noch ist es nicht so weit.

Danke für das Gespräch!

Frau Dr. Bornemeier ist auch in 2016 wieder auf dem ‚Bottle Market‚ – wenn Sie auch gerne einmal mit ihr fachsimpeln und sich über die Reisemöglichkeiten zu schottisschen Destillen informieren möchten: Halle 7 Stand C 46  ‚Reisekultouren‘

Fotos: Reisekultouren, Alba Collection

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