Manufakturen-Blog: In der Montage bei Vickermann & Stoya Maßschuhe in Baden-Baden - ein Foto von Martin Specht aus dem Jahr 2012

Das, was uns antreibt – Handlungsanleitung für den Eintritt in die Welt der Manufakteure

20. Januar 2025, Bremen. Wenn man eine der Casting-Shows wie „The Voice of Germany“ sieht, dann stellt man fest, wie positiv vor allem Menschen unser Land sehen, die unter schwierigsten Umständen nach Deutschland eingewandert sind. Sie stehen da auf den Bühnen, glühen für ihre Musik und erzählen, was sie an unserem Land so toll finden: Frieden, Sicherheit, Zuversicht, Verlässlichkeit, Toleranz und Qualität.

Wir alle kennen diese uns und unserem Land zugeschriebenen Eigenschaften. Für uns klingen sie manchmal hohl, weil wir immer wieder vergessen, dass sie auch bei uns erkämpft werden mussten. Erkämpft von Menschen, die mit Leidenschaft für ihre Ansichten angetreten sind. Deutsche und Leidenschaft – na ja, auch eine funktionierende Verwaltung erzählt letzten Endes von einer Leidenschaft, die man nicht als albern herabwürdigen muss. Denn jedes System, das funktioniert, funktioniert nur, weil es von einem schwer greifbaren Kitt, einer in ihm wirkenden Anziehungskraft zusammengehalten wird, die nicht mit Arbeitsanweisungen und Pflichtgefühl allein zu erklären sind. Pflicht – ja, woher sollte sie denn wohl kommen? Pflicht resultiert immer aus tieferen Überzeugungen, die im Geheimen in uns Menschen wirken. Überzeugungen, die – solange sie nicht durch äußere Einflüsse verloren gehen oder sich in Negative wandeln – uns viel stärker antreiben, als wir im täglichen Arbeitsleben bemerken.

„Jeder Mensch steht immer im Absoluten“, sagt der Berliner Philosoph Jochen Kirchhoff. Er meint damit: Wir haben alle nur unser eines Leben – wir müssen uns bewusst sein, dass wir uns besser jeden Tag für das engagieren, was uns wirklich antreibt. Und nicht unsere Zeit verdaddeln und denken: Dies oder das mache ich einmal, wenn ich dafür Zeit habe. Denn die Uhr läuft ständig, Tag für Tag, Stunde für Stunde.

Das Zitat meint natürlich auch: Wir können uns vor unserer Verantwortung nicht drücken. Letzten Endes vergeuden wir unsere Lebenszeit in jedem Moment, in dem wir Mitläufer sind in einem System, an das wir nicht wirklich glauben. Der Kant’sche Imperativ (falls Sie den Begriff nicht kennen, müssen Sie ihn unbedingt mal bei Google eingeben) gilt natürlich immer und überall. Und jeder, der Ihnen etwas anderes erzählt, will Sie für eine fremde Sache manipulieren.

Doch zurück zur Leidenschaft. Unbestritten bieten deutsche Künstler, Kunsthandwerker und Manufakturen erstklassige und leidenschaftlich entworfene und hergestellte Produkte, die niemals durch ein anonymes Fabrikprodukt übertroffen werden können. Niemals kann ein leidenschaftlich in Handarbeit gefertigtes Produkt durch ein seelenloses Industrieprodukt übertroffen werden. Es mag in eine Nische verdrängt werden; es kann sein, dass sich nur eine kleine Anzahl von Menschen das beste Produkt leisten kann – aber übertroffen werden kann es nicht. Perfekt ist perfekt. Da geht nicht mehr.

Ich habe mich gefragt, welche Motoren die Manufakturen antreiben, die in ihren Nischen so perfekte Produkte herstellen – gegen den Zeitgeist, wie es oft beschrieben und sogar beklagt wird. Wenn man einen Blick auf die Biografien der Unternehmer wirft, dann stellt man schnell fest, dass viele überzeugte Seiteneinsteiger sind: Andreas Müller vom Rasierpinsel-Hersteller Mühle – ein Theologe, Christian von Campe von der Hemdenmanufaktur Campe & Ohff – ein Bankkaufmann, Matthias Vickermann von der Maßschuhmanufaktur Vickermann und Stoya – ein Steuerfachgehilfe, der aus Frust über tägliches Zahlenwerk und die eigene Schuhgröße 54 eine Schusterlehre absolvierte. Rolf-Peter Beckmann von der Steppwarenmanufaktur Matschke & Boller ist ein ehemaliger Bankvorstand, Diana Funke, Leiterin der Textilmanufaktur Maximilian Frey, ist Diplom-Soziologin. Sie fasst selbstironisch zusammen: „Wir machen das, was wir nicht gelernt haben – dafür aber gut.“

Nun ist der wenig stringente Karriereweg an die Spitze einer Manufaktur natürlich vor allem in den Betrieben zu finden, die in den vergangenen Jahrzehnten neu gegründet wurden oder ihren Eigentümer gewechselt haben, bisweilen auch holpernd und polternd. Denn wo der Betrieb vererbt werden sollte, da haben meistens die Eltern ihre Kinder auf den Übergang vorbereitet und entsprechende Ausbildungen und Studiengänge absolvieren lassen.

Doch die Manufakturen-Branche bietet aufgrund übersichtlicher Kapitalisierung und Buchwerte große Möglichkeiten für Quereinsteiger.

Ute Czeschka, Diplom-Chemikerin und Gründerin des Handelsportals für Manufakturwaren Manufakturhaus.com in Meißen, ist auch so ein Beispiel. Die persönliche Faszination für Manufakturprodukte brachte sie über das Berater-Business zum eigenen Portal mit inzwischen angeschlossenem Ladengeschäft in der Meißener Altstadt, in die Jury zum „Manufaktur-Produkt des Jahres“ des Verbandes Deutsche Manufakturen e. V., weiter in den Beirat des Buchprojektes Deutscher Manufakturenführer des Verlags Deutsche Standards; sie selbst initiierte das Buch „Die feine sächsische Art – Manufakturen in Sachsen“ im Verlag der Sächsischen Zeitung.

Ute Czeschka sagt: „Eigentlich wollte ich nur sächsischen Manufakturen helfen, sich besser zu vermarkten. Aber da wusste ich teilweise gar nicht, wo ich anfangen sollte. Da waren viele noch bei Null.“ Ute Czeschka und ihr Manufakturhaus wurden im Juli 2014 für ihr Engagement zur Erhöhung der Bekanntheit und Wertschätzung deutscher Manufaktur-Produkte von der Bundesregierung geehrt – mit der Wahl zum „Ausgezeichneten Ort im Land der Ideen“.

Und – wie bereitet man sich nun auf den Eintritt in die Arbeitswelt der Manufakturen vor?

Zunächst einmal: Seien Sie selbst ein Individualist. Manufakturen brauchen Mitarbeiter, die von ihrem eigenen Tun überzeugt sind.

Hüten Sie sich vor allen Predigern des „Praktischen“. Das Manufaktur-Produkt ist zwar absolut praktisch – aber es geht bei diesem „praktisch“ nicht darum, aus arbeits- und preissparenden Gründen auf das eine oder andere wichtige Detail zu verzichten. Denn ist das Manufaktur-Produkt nicht perfekt, dann ist es echt überholt. Und viel zu teuer. Hier greift auch wieder Ihr Individualismus – Individualismus ist das, was alle Systeme der Prediger des Praktischen so stört.

Manufakturen-Block: Bei Vickermann & Stoya im Showroom in Baden-Baden

Bei Vickermann & Stoya im Showroom in Baden-Baden – das Leisten-Lager dekorativ genutzt…

Manufakturen-Blog: ... und wer Schuhe herstellt, putzt sie auch und sammelt alte Schuhcreme-Dosen

… und wer Schuhe herstellt, putzt sie auch und sammelt alte Schuhcreme-Dosen.

Überhaupt: Das Individuum wird zwar gerne lippenbekennerisch als Salz der Suppe bezeichnet – aber in Wirklichkeit als störendes Sandkorn im System angesehen. Und Bedeutung wollten Sie in Ihrem Leben doch auch haben, oder? Also, trauen Sie sich ruhig, ein Sandkorn zu sein. Sandkorn neben Sandkorn – schon hat man einen schönen Strand. Und wo die Grenzen eines Sandkorns sind, das erfahren Sie dann schon, keine Angst.

Eine einfache Übung, um ein Individuum zu werden, ist: Leisten Sie sich Ihren Spleen. Ein Spleen ist nicht per se etwas Nervtötendes für ihre Umgebung, sondern etwas, das Sie für sich praktizieren, auch wenn es ihre Umgebung nicht versteht und vielleicht sogar für unpraktisch hält. Zum Beispiel wie die Schleife, die der Manufaktur-Unternehmer Jan-Henrik Scheper-Stuke von der Berliner Krawattenmanufaktur Edsor Kronen immer trug (inzwischen ist das Unternehmen verkauft), obwohl er selbst nur Schlipse produzierte. Und tragen Sie eine Schleife selbst in der Disco – es kann ja auch eine Fliege sein – das ist dann der Spleen. Und Übung zugleich.

Eine weitere Übung ist: Arbeiten Sie an Ihrer inneren Haltung. Lassen Sie sich nicht mit dem „relativ besten“ abspeisen – verfolgen Sie Ihre Forderung, die Sie ja auch an sich selbst haben: nach dem „Besten“.

Dabei dürfen Sie das Teuerste nicht mit dem Besten verwechseln. Der Porsche 959 war unbestritten ein tolles Auto und mit 450 000 D-Mark auch ein sehr teures – aber keinesfalls das Beste für eine Familie, zumal bestehend aus zwei Eltern und drei Kindern. Und man braucht auch weder eine Uhr noch ein Kochmesser mit eingefassten Diamanten. Denn bei diesen Dingen handelt es sich nur um Luxus oder Dekadenz oder Überdruss – je nachdem, wo man selbst so steht.

Diese Haltung steigern Sie weiter: Leisten Sie sich selbst gegenüber einen Schwur, sich in den relevanten Fragen Ihres Lebens nicht mehr mit den B-Varianten abspeisen lassen zu wollen. Sie werden feststellen: Das wird kein Selbstgänger.

Wenn Sie das gut genug leben, dann werden Sie sich irgendwann plötzlich auf dem Rütli wiederfinden. Rütli – das ist diese Wiese in Schillers auch heute noch absolut lesenswerten „Wilhelm Tell“, auf der der berühmte Schwur gegeben wird: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“ Dieser Schwur wurde in seiner Zeit als nationales Erweckungs-Bekenntnis im Politischen gesehen. Ich habe diesen Schwur zuletzt von Peter Sodann auf dem Marktplatz in Halle an der Saale am 2. Oktober 1990 im Rahmen der Beitrittsfeier öffentlich rezitiert gehört. Er hat natürlich umgeben von einem Volksfest mit Veronika Fischer und Roland Kaiser nur mäßig gezündet, vielleicht haben auch zu wenige zugehört.

Last not least haben die Angehörigen von Völkern oder Gesellschaften – vom Individuum aus betrachtet – eben doch zu wenig gemein; aber dieser Schwur taugt natürlich super für die Gemeinde der Manufaktur-Affinen. Bezogen auf den Qualitätsanspruch findet sich doch immer wieder eine größere Gruppe zusammen, die ihn für sich formuliert hat.

Wie weit man sich mit Manufaktur-Produkten umgibt, ist auch eine Stilfrage. Wenn man mal feststellt, dass wir die Zeit der Weltkriege mit Chaos und Überlebenskampf trotz IS-Terrors und anderer Bedrohungen wahrscheinlich doch einstweilen hinter uns gelassen haben und in eine Zeit der Vielbevölkerung eingetreten sind, dann kann Individualismus zur Strategie werden. Große liberale Politiksysteme geben Raum – aber auch der muss gefüllt werden. Wo sich der Staat zurückgezogen hat, da wird vom Bürger erwartet, dass er das Vakuum ausfüllt und Verantwortung übernimmt. Deregulierung schafft Platz für Individualismus und das Individuum. Ganz egal, ob man das jetzt gut findet oder nicht – Fakt ist, dass derjenige, der sich besser vorbereitet und geübt hat, sich leichter zurechtfindet und leichter besteht. Das gilt genauso für die Arbeitswelt. Also: Praktizieren Sie unbedingt schon aus Übungsgründen Ihren Spleen. Seien Sie sich immer bewusst, dass Sie sowieso „im Absoluten“ stehen und Ihnen niemand die Verantwortung für Ihr Tun abnimmt. Dann sind Sie bei den Manufakturen irgendwie schon richtig.

Fotos: Martin Specht

Essay aus dem Jahr 2015 für die Zeitschrift ‚Objects No. 8‘ des Direktorenhaus – Museum für Kunst, Handwerk und Design

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