Die Eisenhütte in Augustfehn

28. Januar 2025, Augustfehn. Fahrt durch Ostfriesland nach Osten. Flaches Land. Ganz flaches Land. Grünland, ab und an ein Wäldchen. Kühe, Schafe, Pferde – das Reich von Carmen und Tamme Hanken, den berühmten Tier-Chiropraktikern, dem „Knochenbrecher“ aus Filsum. Sowie Ottifanten – und dessen Erfinders Otto Waalkes, dem Komiker aus Emden. Die Landschaft nennt man ‚Marsch‘. Gibt es eine Bodenerhebung – dann ist es gerne ein Deich. Kleine Straßenbrücken sehen aus, als wären sie von van Gogh gemalt, sie führen über die Entwässerungs- und Torfkanäle, mit deren Bau das lange unwirtliche Binnenland – norddeutsche Moorlandschaften eben – trockengelegt wurden. Dazu gehörte auch die Gründung vieler Ortschaften während des 30jährigen Krieges, der sogenannten „Fehndörfer“, die als Kolonien gedacht wurden, den Torfabbau zum Brennen und Düngen fördern und der Lebensmittelerzeugung dienen sollten. Und auch für Sonstiges. Eines dieser Dörfer im Osten dieser Landschaft – genaugenommen auf der östlichen Grenze dieser Region und als erstes schon von der Verwaltung im Landkreis Ammerland liegend – ist die Gemeinde Augustfehn, allerdings erst im Jahr 1850 gegründet und mit dem Namen des Oldenburger Großherzogs Paul Friedrich August ausgestattet. Herausragend steht in ihm ein schöner Wasserturm. Er gehört zu „Sonstiges“: zur ‚Eisenhütte Augustfehn‘, einer ehemals großen Manufaktur mitten im Torfland.

Das Eisenhütten-Werk war der Plan zweier Männer aus Oldenburg – eines Herrn Schutze und eines Herrn Bley. Diese begründeten schon sechs Jahre nach Augustfehns Erscheinen auf den Landkarten die ‚Oldenburgische Eisenhütten-Gesellschaft zu Augustfehn‘ – Zweck: Errichtung einer Eisengießerei und eines Emaillierwerkes, darüberhinaus eines Puddelwerks sowie eines Walzwerks. Puddelwerk? Einfach beschrieben geht es in ihm darum, aus Roheisen mit dem Glühen und Schmieden über Steinkohle stabileres Schmiedeeisen herzustellen, ein Vorläufer des Stahls, der ja viel haltbarer und vor allem auch elastischer als Gusseisen ist. Und im Walzwerk stellt man dann Bleche daraus her. Beim Emaillieren wird es mit einer Glashaut überzogen und gegen Rost geschützt.

Richtig Aufschwung nahm die erfolgreiche Gründung mit dem Bau der Eisenbahnstrecke von Oldenburg nach Leer in den 1870er Jahren – die Eisenhütte erhielt einen eigenen Anschluss. Um das Jahr 1880 hatte sie bereits 300 Mitarbeiter, davon ein Teil als Saisonarbeiter aus den Torfbetrieben, viele jedoch zugewandert aus Westfalen und anderen Teilen des Deutschen Reiches. Typisch Gründerzeit – Aufschwung allerorten. Reichsgründung, Eisenbahn, Bankwesen haben es gemacht. Eisen und Stahl wurden allerorts gebraucht: als Träger im Bau, für Brücken, Schiffahrt und den Eiffelturm.

Im neuen Jahrhundert wird die Eisenhütte zweimal verkauft: an die Warsteiner Grubenwerke und später nach Schlesien. Die Eisenhütte spezialisiert sich auf Artikel zum Einsatz in Gaswerken. Im Jahr 1911 wird der heute noch stehende Wasserturm und das Kesselhaus gebaut.

Manufakturen-Blog: "Augustfehn i(m) O(ldenburgischen) - Eisenhütte" - Postkarte am Beginn des 20. Jahrhunderts (Repro: Wigmar Bressel)

„Augustfehn i(m) O(ldenburgischen) – Eisenhütte“ – Postkarte am Beginn des 20. Jahrhunderts mach dem Bau des Wasserturms (r.) im Jahr 1911

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise gerät auch die Eisenhütte in Schwierigkeiten – nach zwei Jahren Kurzarbeit ist Schluss, das Werk wird im Jahr 1932 stillgelegt.

Vier Jahre später nochmal ein Aufwallen: aus der Eisenhütte wird ein Depot der Werft der Kriegsmarine in Emden. Das trägt natürlich nur neun Jahre.

Die Hallen und Gebäude dienen nach Kriegsende verschiedenen Zwecken: als Lager, der Post – und das Kesselhaus einer Freikirche für acht Jahre als Gotteshaus.

Im Jahr 1967 zieht die Bundeswehr ein, die Eisenhütte bleibt Lager. Die Liegenschaft wird nach deren Auszug im Jahr 2003 vom Bundesvermögensamt an die Kommune verkauft, Kesselhaus und Wasserturm erwerben im Jahr 2010 das Unternehmer-Paar Anke und Dieter Börjes (Harley-Davidson-Händler und Reparateure), die daraus ein Restaurant und Ausstellungsräume für den Eisenhütte-Kultur-Verein machen. Ein Besuch – lohnenswert.

Manchmal bleibt von einer Manufaktur – eben immerhin ein Baudenkmal, als ‚Niedersächsisches Industriedenkmal‘ sogar an der Autobahn mit einem braunen Sehenswürdigkeit-Schild ausgewiesen.

Manufakturen-Blog: Das Kesselhaus der früheren Eisenhütte beherbergt jetzt ein Restaurant, Ausstellungsräume und eine Außenstelle des Standesamtes (Foto: Wigmar Bressel)

Das Kesselhaus der früheren Eisenhütte beherbergt jetzt ein Restaurant, Ausstellungsräume und eine Außenstelle des Standesamtes – Ausstellungs-Information zum ‚Manufakturen-Blog-PopArt-Projekt‘ im Jahr 2023

Manufakturen-Blog: Kesselhaus-Relikte im heutigen Restaurant (Foto: Wigmar Bressel)

Kesselhaus-Relikte im heutigen Restaurant

Fotos: Eisenhütte, Wigmar Bressel

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Das, was uns antreibt – Handlungsanleitung für den Eintritt in die Welt der Manufakteure

20. Januar 2025, Bremen. Wenn man eine der Casting-Shows wie „The Voice of Germany“ sieht, dann stellt man fest, wie positiv vor allem Menschen unser Land sehen, die unter schwierigsten Umständen nach Deutschland eingewandert sind. Sie stehen da auf den Bühnen, glühen für ihre Musik und erzählen, was sie an unserem Land so toll finden: Frieden, Sicherheit, Zuversicht, Verlässlichkeit, Toleranz und Qualität.

Wir alle kennen diese uns und unserem Land zugeschriebenen Eigenschaften. Für uns klingen sie manchmal hohl, weil wir immer wieder vergessen, dass sie auch bei uns erkämpft werden mussten. Erkämpft von Menschen, die mit Leidenschaft für ihre Ansichten angetreten sind. Deutsche und Leidenschaft – na ja, auch eine funktionierende Verwaltung erzählt letzten Endes von einer Leidenschaft, die man nicht als albern herabwürdigen muss. Denn jedes System, das funktioniert, funktioniert nur, weil es von einem schwer greifbaren Kitt, einer in ihm wirkenden Anziehungskraft zusammengehalten wird, die nicht mit Arbeitsanweisungen und Pflichtgefühl allein zu erklären sind. Pflicht – ja, woher sollte sie denn wohl kommen? Pflicht resultiert immer aus tieferen Überzeugungen, die im Geheimen in uns Menschen wirken. Überzeugungen, die – solange sie nicht durch äußere Einflüsse verloren gehen oder sich in Negative wandeln – uns viel stärker antreiben, als wir im täglichen Arbeitsleben bemerken.

„Jeder Mensch steht immer im Absoluten“, sagt der Berliner Philosoph Jochen Kirchhoff. Er meint damit: Wir haben alle nur unser eines Leben – wir müssen uns bewusst sein, dass wir uns besser jeden Tag für das engagieren, was uns wirklich antreibt. Und nicht unsere Zeit verdaddeln und denken: Dies oder das mache ich einmal, wenn ich dafür Zeit habe. Denn die Uhr läuft ständig, Tag für Tag, Stunde für Stunde.

Das Zitat meint natürlich auch: Wir können uns vor unserer Verantwortung nicht drücken. Letzten Endes vergeuden wir unsere Lebenszeit in jedem Moment, in dem wir Mitläufer sind in einem System, an das wir nicht wirklich glauben. Der Kant’sche Imperativ (falls Sie den Begriff nicht kennen, müssen Sie ihn unbedingt mal bei Google eingeben) gilt natürlich immer und überall. Und jeder, der Ihnen etwas anderes erzählt, will Sie für eine fremde Sache manipulieren.

Doch zurück zur Leidenschaft. Unbestritten bieten deutsche Künstler, Kunsthandwerker und Manufakturen erstklassige und leidenschaftlich entworfene und hergestellte Produkte, die niemals durch ein anonymes Fabrikprodukt übertroffen werden können. Niemals kann ein leidenschaftlich in Handarbeit gefertigtes Produkt durch ein seelenloses Industrieprodukt übertroffen werden. Es mag in eine Nische verdrängt werden; es kann sein, dass sich nur eine kleine Anzahl von Menschen das beste Produkt leisten kann – aber übertroffen werden kann es nicht. Perfekt ist perfekt. Da geht nicht mehr.

Ich habe mich gefragt, welche Motoren die Manufakturen antreiben, die in ihren Nischen so perfekte Produkte herstellen – gegen den Zeitgeist, wie es oft beschrieben und sogar beklagt wird. Wenn man einen Blick auf die Biografien der Unternehmer wirft, dann stellt man schnell fest, dass viele überzeugte Seiteneinsteiger sind: Andreas Müller vom Rasierpinsel-Hersteller Mühle – ein Theologe, Christian von Campe von der Hemdenmanufaktur Campe & Ohff – ein Bankkaufmann, Matthias Vickermann von der Maßschuhmanufaktur Vickermann und Stoya – ein Steuerfachgehilfe, der aus Frust über tägliches Zahlenwerk und die eigene Schuhgröße 54 eine Schusterlehre absolvierte. Rolf-Peter Beckmann von der Steppwarenmanufaktur Matschke & Boller ist ein ehemaliger Bankvorstand, Diana Funke, Leiterin der Textilmanufaktur Maximilian Frey, ist Diplom-Soziologin. Sie fasst selbstironisch zusammen: „Wir machen das, was wir nicht gelernt haben – dafür aber gut.“

Nun ist der wenig stringente Karriereweg an die Spitze einer Manufaktur natürlich vor allem in den Betrieben zu finden, die in den vergangenen Jahrzehnten neu gegründet wurden oder ihren Eigentümer gewechselt haben, bisweilen auch holpernd und polternd. Denn wo der Betrieb vererbt werden sollte, da haben meistens die Eltern ihre Kinder auf den Übergang vorbereitet und entsprechende Ausbildungen und Studiengänge absolvieren lassen.

Doch die Manufakturen-Branche bietet aufgrund übersichtlicher Kapitalisierung und Buchwerte große Möglichkeiten für Quereinsteiger.

Ute Czeschka, Diplom-Chemikerin und Gründerin des Handelsportals für Manufakturwaren Manufakturhaus.com in Meißen, ist auch so ein Beispiel. Die persönliche Faszination für Manufakturprodukte brachte sie über das Berater-Business zum eigenen Portal mit inzwischen angeschlossenem Ladengeschäft in der Meißener Altstadt, in die Jury zum „Manufaktur-Produkt des Jahres“ des Verbandes Deutsche Manufakturen e. V., weiter in den Beirat des Buchprojektes Deutscher Manufakturenführer des Verlags Deutsche Standards; sie selbst initiierte das Buch „Die feine sächsische Art – Manufakturen in Sachsen“ im Verlag der Sächsischen Zeitung.

Ute Czeschka sagt: „Eigentlich wollte ich nur sächsischen Manufakturen helfen, sich besser zu vermarkten. Aber da wusste ich teilweise gar nicht, wo ich anfangen sollte. Da waren viele noch bei Null.“ Ute Czeschka und ihr Manufakturhaus wurden im Juli 2014 für ihr Engagement zur Erhöhung der Bekanntheit und Wertschätzung deutscher Manufaktur-Produkte von der Bundesregierung geehrt – mit der Wahl zum „Ausgezeichneten Ort im Land der Ideen“.

Und – wie bereitet man sich nun auf den Eintritt in die Arbeitswelt der Manufakturen vor?

Zunächst einmal: Seien Sie selbst ein Individualist. Manufakturen brauchen Mitarbeiter, die von ihrem eigenen Tun überzeugt sind.

Hüten Sie sich vor allen Predigern des „Praktischen“. Das Manufaktur-Produkt ist zwar absolut praktisch – aber es geht bei diesem „praktisch“ nicht darum, aus arbeits- und preissparenden Gründen auf das eine oder andere wichtige Detail zu verzichten. Denn ist das Manufaktur-Produkt nicht perfekt, dann ist es echt überholt. Und viel zu teuer. Hier greift auch wieder Ihr Individualismus – Individualismus ist das, was alle Systeme der Prediger des Praktischen so stört.

Manufakturen-Block: Bei Vickermann & Stoya im Showroom in Baden-Baden

Bei Vickermann & Stoya im Showroom in Baden-Baden – das Leisten-Lager dekorativ genutzt…

Manufakturen-Blog: ... und wer Schuhe herstellt, putzt sie auch und sammelt alte Schuhcreme-Dosen

… und wer Schuhe herstellt, putzt sie auch und sammelt alte Schuhcreme-Dosen.

Überhaupt: Das Individuum wird zwar gerne lippenbekennerisch als Salz der Suppe bezeichnet – aber in Wirklichkeit als störendes Sandkorn im System angesehen. Und Bedeutung wollten Sie in Ihrem Leben doch auch haben, oder? Also, trauen Sie sich ruhig, ein Sandkorn zu sein. Sandkorn neben Sandkorn – schon hat man einen schönen Strand. Und wo die Grenzen eines Sandkorns sind, das erfahren Sie dann schon, keine Angst.

Eine einfache Übung, um ein Individuum zu werden, ist: Leisten Sie sich Ihren Spleen. Ein Spleen ist nicht per se etwas Nervtötendes für ihre Umgebung, sondern etwas, das Sie für sich praktizieren, auch wenn es ihre Umgebung nicht versteht und vielleicht sogar für unpraktisch hält. Zum Beispiel wie die Schleife, die der Manufaktur-Unternehmer Jan-Henrik Scheper-Stuke von der Berliner Krawattenmanufaktur Edsor Kronen immer trug (inzwischen ist das Unternehmen verkauft), obwohl er selbst nur Schlipse produzierte. Und tragen Sie eine Schleife selbst in der Disco – es kann ja auch eine Fliege sein – das ist dann der Spleen. Und Übung zugleich.

Eine weitere Übung ist: Arbeiten Sie an Ihrer inneren Haltung. Lassen Sie sich nicht mit dem „relativ besten“ abspeisen – verfolgen Sie Ihre Forderung, die Sie ja auch an sich selbst haben: nach dem „Besten“.

Dabei dürfen Sie das Teuerste nicht mit dem Besten verwechseln. Der Porsche 959 war unbestritten ein tolles Auto und mit 450 000 D-Mark auch ein sehr teures – aber keinesfalls das Beste für eine Familie, zumal bestehend aus zwei Eltern und drei Kindern. Und man braucht auch weder eine Uhr noch ein Kochmesser mit eingefassten Diamanten. Denn bei diesen Dingen handelt es sich nur um Luxus oder Dekadenz oder Überdruss – je nachdem, wo man selbst so steht.

Diese Haltung steigern Sie weiter: Leisten Sie sich selbst gegenüber einen Schwur, sich in den relevanten Fragen Ihres Lebens nicht mehr mit den B-Varianten abspeisen lassen zu wollen. Sie werden feststellen: Das wird kein Selbstgänger.

Wenn Sie das gut genug leben, dann werden Sie sich irgendwann plötzlich auf dem Rütli wiederfinden. Rütli – das ist diese Wiese in Schillers auch heute noch absolut lesenswerten „Wilhelm Tell“, auf der der berühmte Schwur gegeben wird: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“ Dieser Schwur wurde in seiner Zeit als nationales Erweckungs-Bekenntnis im Politischen gesehen. Ich habe diesen Schwur zuletzt von Peter Sodann auf dem Marktplatz in Halle an der Saale am 2. Oktober 1990 im Rahmen der Beitrittsfeier öffentlich rezitiert gehört. Er hat natürlich umgeben von einem Volksfest mit Veronika Fischer und Roland Kaiser nur mäßig gezündet, vielleicht haben auch zu wenige zugehört.

Last not least haben die Angehörigen von Völkern oder Gesellschaften – vom Individuum aus betrachtet – eben doch zu wenig gemein; aber dieser Schwur taugt natürlich super für die Gemeinde der Manufaktur-Affinen. Bezogen auf den Qualitätsanspruch findet sich doch immer wieder eine größere Gruppe zusammen, die ihn für sich formuliert hat.

Wie weit man sich mit Manufaktur-Produkten umgibt, ist auch eine Stilfrage. Wenn man mal feststellt, dass wir die Zeit der Weltkriege mit Chaos und Überlebenskampf trotz IS-Terrors und anderer Bedrohungen wahrscheinlich doch einstweilen hinter uns gelassen haben und in eine Zeit der Vielbevölkerung eingetreten sind, dann kann Individualismus zur Strategie werden. Große liberale Politiksysteme geben Raum – aber auch der muss gefüllt werden. Wo sich der Staat zurückgezogen hat, da wird vom Bürger erwartet, dass er das Vakuum ausfüllt und Verantwortung übernimmt. Deregulierung schafft Platz für Individualismus und das Individuum. Ganz egal, ob man das jetzt gut findet oder nicht – Fakt ist, dass derjenige, der sich besser vorbereitet und geübt hat, sich leichter zurechtfindet und leichter besteht. Das gilt genauso für die Arbeitswelt. Also: Praktizieren Sie unbedingt schon aus Übungsgründen Ihren Spleen. Seien Sie sich immer bewusst, dass Sie sowieso „im Absoluten“ stehen und Ihnen niemand die Verantwortung für Ihr Tun abnimmt. Dann sind Sie bei den Manufakturen irgendwie schon richtig.

Fotos: Martin Specht

Essay aus dem Jahr 2015 für die Zeitschrift ‚Objects No. 8‘ des Direktorenhaus – Museum für Kunst, Handwerk und Design

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Kein Bling Bling – von der Sehnsucht nach der deutschen Manufaktur

19. Januar 2025, Bremen. Letzten Endes ist der NSA-Abhör-Skandal doch zu etwas gut. Die Revolution blieb zwar aus – aber die Erschütterung über das Ausspähen der verbündeten deutschen Bundesregierung blieb. In jedem von uns ein bisschen. Der eine Großteil meiner Bekannten hat gesagt: Ich habe es schon immer gewusst. Der andere Großteil hat gesagt: Bei mir gibt es für die nichts zu holen. Getroffen hat es aber trotzdem jeden – ein Stück persönliche Sicherheit ist weg, wenn Sicherheitsprogramme uns weltweit heimlich hinterher spionieren. Man erinnert sich gerne und wehmütig an den angeblichen Trend „Cocooning“, das sich zu Hause Einspinnen, der vor zehn Jahren in Wohnwelten und Küchen eingetroffen war: Man lud wieder zu sich nach Hause ein, präsentierte sich ein Stück privater, als im Restaurant oder Club. Heute denken wir: Hätten wir das bloß noch ein bisschen öfter gemacht, statt uns so bei Facebook auszutoben. Und beim Blick auf das Smartphone wird uns klar, was dieses vom handgeschliffenen Kochmesser unterscheidet: Beide können etwas – das Smartphone super telefonieren und das Messer super schneiden; beide können auch etwas nicht – nämlich in den Geschirrspüler. Während das Smartphone nun aber heimlich weitermeldet, mit wem kommuniziert wurde, behält das Messer für sich, was es geschnitten hat.

Die Ausspäh-Affäre wird eine alte Sehnsucht der Menschen verstärken – die Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, auch der Dinge im persönlichen Umfeld. Das handgeschmiedete Messer und all die anderen wunderbaren Dinge aus den Manufakturen. Dinge, die nicht im Industrieland A teuer erdacht, im Schwellenland B günstig designt und dann im Schwellenland C unter menschenunwürdigen Verhältnissen billigst gefertigt wurden, und deren Dreck und Müll anschließend in den Entwicklungsländern D – Z nahezu umsonst verklappt wurden. Der Rasierpinsel aus dem Erzgebirge, der thüringische Osterhase aus der Marolin-Masse, das Porzellan aus Niedersachsen, die Rosshaar-Handtasche aus Obertshausen, unser Silber-Besteck aus Bremen – natürlich die Form „Spaten“, noch entworfen von unserem Firmengründer Gottfried Koch im Jahr 1829. Sehnsucht nach Versprechen, die gehalten werden. Nachhaltig. Nicht Luxus, nicht bling-bling. Denn es geht nicht um teuer, sondern es geht um gut. Teuer, Luxus – diese Worte umschleicht schon das Wort Verrat. Kein Mensch kann sagen, was an einem Stretch-T-Shirt mit einer großen Werbeaufschrift auf der Brust und gefertigt in Bangladesch teuer sein kann. Außer der Verkäufer, der aus 14 Euro Einkaufspreis im Mix mit einer hohen Ladenmiete in einer der weltweiten Metropolen, kombiniert mit dem virtuellen Attribut einer internationalen Marke 140 Euro aus dem Portmonee des Kunden hervorgezaubert bekommt. Dabei steht an der nächsten Ecke schon der bitterarme Wirtschaftsflüchtling, der das scheinbar gleiche Produkt zum Viertel des Preises anbietet und flüstert: „Das kommt aus derselben Fabrik, wie das Original…“

Aber neben ihm steht kein Kollege mit einer Kopie des Mühle-Rasierpinsels aus dem Erzgebirge, mit einem handgeschliffenen Messer aus Rosen-Damast wie aus der Manufaktur Gehring in Solingen oder von unserer Sterlingsilber-Gabel aus Bremen. Mag sein, dass er in der Lage wäre, in Indien einen Billig-Nachbau des echten Polos von Maximilian Frey aus Limbach-Oberfrohna in Sachsen zu beschaffen – doch der avisierte Kunde glaubt nicht an schadstoffreie Bio-Baumwolle für 15 Euro pro Shirt. Er will auch nicht, dass seine Freunde glauben, dass Polo-Shirt sei echt, sondern er will in jedem Fall den Haut-Juckreiz vermeiden. Wo es um Inhalt, Nachhaltigkeit und kleine Stückzahl aus der Manufaktur geht, tun sich Betrug und Verrat schwer. Wer billig kaufen muss, geht gleich zum Discounter – und hat auch kein Geld für das in Wirklichkeit doch recht teure Label-Fake. Insofern haben all die Hersteller, die ihre Produktion nach Asien „ausgelagert“ haben, um den Kunden auf dem Heimatmarkt einfach irgendetwas billiger zu liefern, selbst schuld daran, dass sie sich jetzt mit ihren Kopisten herumschlagen dürfen.

Ein gutes Beispiel dagegen ist Auerbach, die Berliner Krawatten-Manufaktur: Auch in den Kellern der Hackeschen Höfe werden keine Seidenraupen gehalten – aber die Krawatten entworfen und in Handarbeit zugeschnitten, gelegt, gefälzt und teilweise sogar noch Heimarbeit – eine Produktionsform aus den Wirtschaftswunderjahren des Arbeitskräftemangels – genäht. Und am Luxus-Point-of-Sale verkauft.

Die viel geringere Marge macht nicht immer Spaß, doch sie gibt vielerlei Arten von Bodenhaftung. Die große Mühe, die es macht, täglich wieder Hunderte von Kunden zu finden, sichert Arbeitsplätze – zum Beispiel eben in Berlin. Wer weiß, wie man in Deutschland produzieren und leben kann, der ist nicht so leicht ersetzbar, der ist nicht beliebig und überflüssig. Denn er kennt ja offensichtlich das Geheimnis, wie das geht, was wir alle wollen.

Als wir unseren Verband Deutsche Manufakturen e. V. im Sommer des Jahres 2010 gegründet haben, haben wir zuvor diskutiert, wie sehr der Begriff Luxus mit unserem Anliegen verknüpft ist. Luxus – ja was ist eigentlich Luxus? Umgangssprachlich ist es schon die eisgekühlte Dose Cola an einem heißen Sommertag. Vor dem inneren Auge ist es vielleicht der Diamant-Ring für 300 000 Euro des weltweit bekannten Marken-Juweliers. Vielleicht ist es auch die Entscheidung, wenn einem auf Ibiza langweilig ist, eben mal schnell die drei Stunden mit dem eigenen Privatjet nach Kairo zu fliegen, nur für das Abendessen. Na gut, das ist schon Dekadenz…

Uns wurde schnell klar, dass es nicht um die Frage ging, wie viel Luxus in einem Manufaktur-Produkt steckt. Für den einen ist es schon Luxus, wenn er ein 13-Euro-Gemüseputzmesser von Robert Herder aus Solingen benutzt, statt des asiatischen Ein-Euro-Messers von Tedi und Konsorten. Für den anderen beginnt Luxus erst bei maßgeschneiderten Hemden und Blusen von Campe & Ohff aus dem hessischen Lauterbach für 95 Euro oder für Maßanzüge von Puls aus Kirchgellersen ab 800 Euro, die sich auch unser damaliger Vize-Kanzler Philipp Rösler schon leistete.

Es war auch relativ klar, dass wir uns mit Mindestanforderungen bei den Mitarbeitern nach unten von fünf – in Abgrenzung zu den Kunsthandwerkern – und nach oben mit 200 statt 250 oder 300 willkürliche Grenzen auferlegten. Doch Grenzen sind auch hier nötig, denn wo es keine Mitarbeiter gibt und keine arbeitsteilige Produktion, da kann man nicht von Manufaktur sprechen.

Manufakturen-Blog: Eröffnung des Flagship-Stores der Krawattenmanufaktur Edsor Kronen in den Hackeschen Höfen in Berlin im Jahr 2011 mit dem Dresscode 'Black tie' - v. l. Hemdenmanufakteur Christian von Campe, Krawattenhersteller Jan-Hendrik Scheper-Stuke, Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler, Wigmar Bressel von Koch & Bergfeld (Foto: privat)

Eröffnung des Flagship-Stores der Krawattenmanufaktur Edsor Kronen in den Hackeschen Höfen in Berlin im Jahr 2011 mit dem Dresscode ‚Black tie‘ – v. l. Hemdenmanufakteur Christian von Campe, Krawattenhersteller Jan-Hendrik Scheper-Stuke, Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler, Wigmar Bressel von Koch & Bergfeld

Manufakturen-Blog: Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler als besonderer Gast bei Jan-Henrik Scheper-Stuke zur Eröffnung des Flagshipstores der Krawattenmanufktur Edsor Kronen in den Hackeschen Höfen in Berlin im Jahr 2011 (v. l., Foto: Wigmar Bressel)

Bundeswirtschaftsminister Philipp Rößler als besonderer Gast bei Jan-Henrik Scheper-Stuke

Und wer so viele Mitarbeiter beschäftigt, dass es auf die Handwerkskunst der vielen Einzelnen überhaupt nicht mehr ankommt – auch da macht es keinen Sinn, den Begriff Manufaktur zu verwenden, denn dann wäre er ja nur ein Synonym für Mittelstand.

Gar keine Diskussion gab es beim Produktions-Standort Deutschland. Wer in einen Verband hinein möchte, der Deutsche Manufakturen heißt, muss seine Sachen in Deutschland selbst machen. Und damit war uns allen auch klar, was uns wirklich bewegt. Nicht die Marke, sondern die Fertigung von Produkten. In Deutschland. Das Einhalten von Spielregeln, die unsere Gesellschaft aufgestellt hat. Das Fertigen von Produkten für die Kunden aus unserer Gesellschaft. Und damit war auch klar, dass es nicht um Luxus und Marke gehen konnte, sondern um Nachhaltigkeit und Verantwortung innerhalb dieser Gesellschaft. Es geht um das Einhalten von deutschen und europäischen Normen: Energiesparen, Schadstoffausstoß, Inklusion – unser Unternehmen Koch & Bergfeld beschäftigt seit mehr als 100 Jahren gehörlose Mitarbeiter, zu den gleichen Konditionen wie nichtbehinderte Mitarbeiter. Damit will ich gar nicht sagen, dass wir ein besonders guter Arbeitgeber seien; andere mögen es viel besser machen als wir. Aber wir machen es wenigstens. Es stand für uns nie zur Debatte, Kinder in der nordkoreanischen Sonderwirtschaftszone auszubeuten. Denn unsere Meinung ist: Wenn unsere Kunden die notwendigen Preise nicht bezahlen wollen, können Sie halt nicht mit deutschem Silberbesteck essen. Geht es um Luxus? Nein. Geht es um Nachhaltigkeit? Ja. Natürlich, diese Haltung muss man sich aber auch erst einmal leisten können oder wollen, ist schon klar.

Wenn Sie an die beste Ledertasche denken, die Sie sich vorstellen können – fällt Ihnen dann ein Importprodukt ein? Vielleicht noch das von Hermès. Aber kaum eines aus Indien oder China. Dabei könnte diese Tasche vielleicht von Simone Tholl aus Halle an der Saale oder von Lea Lou Kersting und Janina Kraus aus Düsseldorf kommen. Oder von Kappes & Kappes aus Bergen-Enkheim, von ArsGalea aus Burkhardtsdorf oder eben von Comtesse aus Obertshausen. Kennen Sie nicht? Googeln Sie sie mal – und seien Sie nicht zu enttäuscht über teilweise unspektakuläre Internetseiten. Die Taschen wären Ihre Aufmerksamkeit schon wert. Und den Preis sind sie es auch. Denn wo 10 Stunden Arbeit drin stecken, müssen 1000 Euro drauf stehen. Jedenfalls bei einem regulären Handelsartikel.

Wenn bei uns am Messestand über die Preise gemosert wird, dann frage ich gerne: „Wie viele Silberbestecke wollen sie sich denn in ihrem Leben kaufen?“ Oder: „Wie viele Personen leben denn in ihrem Haushalt? Ach, nur sie allein? Dann kaufen Sie sich doch einfach ein Messer, eine Gabel, einen Löffel und einen Kaffeelöffel – da sind sie deutlich unter 800 Euro. Und wenn dann mal Besuch kommt, leisten sie sich einfach einen zweiten Satz, falls sie ihren Besuch überhaupt mit Silber bewirten wollen.“ Mal ehrlich – warum sollen wir für jemanden ein Silberbesteck herstellen, der noch nicht einmal den Silberpreis bezahlen will? Es ist aber auch ein typisches Beispiel für Kunden, die Manufaktur mit Marke verwechseln.

Ganz offensichtlich denken viele Kunden, dass sie von einer Marke beim Preis sowieso hemmungslos über das Ohr gehauen werden. Andreas Mann, Geschäftsführer von Comtesse, hat dazu auf dem 3. Zukunftsforum Deutsche Manufakturen in Solingen die Theorie aufgestellt: Viele Menschen, insbesondere auf dem deutschen Markt, seien heutzutage gar nicht mehr in der Lage, Qualitäten zu unterscheiden. Deshalb klammerten sie sich auch so sehr an Marken und Labels als Orientierungspunkte – obwohl sie sich gerade von diesen beim Preis über den Tisch gezogen fühlen. Daher wahrscheinlich auch der große Spaß am Preis-Schnäppchen. Denn ein anderer oft gehörter Hersteller-Spruch ist: Wir Deutschen seien am Vormittag als Kunden Gutmenschen – und gingen am Nachmittag im Internet auf Schnäppchenjagd.

Es hat etwas von Absurdität, wenn man ein Produkt für den einheimischen Markt aus Kostengründen nur im Ausland produzieren lassen kann. Denn das bedeutet ja nur, dass die Kunden den Preis der Fertigung bei sich zu Hause nicht bezahlen wollten. Und dass das Produkt nur durch eine Art Ausbeutung – das Nutzen der schlechten Entlohnung der Arbeitnehmer in Schwellen- und Entwicklungsländern und das Inkaufnehmen von nach unserem gesellschaftlichen Verständnis unmöglichen Arbeitsbedingungen – zu einem für uns akzeptablen Preis gefertigt werden kann.

Ich proklamiere nicht gleich: „Buy German“. Auch nicht: Kaufen Sie keine Industrieprodukte. Sondern: Wenn Sie es irgendwie können, dann kaufen Sie nachhaltige Produkte. Nachhaltig auch im Sinne der Frage, ob das Produkt wohl wirklich zu diesem niedrigen Preis unter akzeptablen Bedingungen gefertigt werden konnte.

Denn ein ganz anderes Problem lässt sich damit auch erschlagen: das der Konsumunlust. Denn mal ganz ehrlich: Macht der Medion-Lautsprecher, gekauft bei Aldi, tatsächlich satt? Oder sollte man nicht einfach mal über Ceratec aus Bremen nachdenken oder sogar über einen CD-Player von Restek aus dem hessischen Fuldabrück? In dieser Manufaktur gibt es immerhin eine lebenslange Nachrüst-Garantie für später verbesserte Bauteile. Klar kostet die gefräste Edelstahlfront Geld – aber dafür kann man die Leute, die diese Spezialteile ausgetüftelt und oft auch persönlich zusammengeschraubt habe, einmal alles fragen, was man dazu schon immer mal fragen wollte. Manufaktur-Produkte machen eben satt und zufrieden. Nachhaltig.

P. S.: Ach, Sie hören keine Scheiben mehr? Na, dann weiterhin viel Spaß auf dem Weg ins Pay-per-hear bei iTunes & Co. Immerhin kann dann ein anderes Überwachungsprogramm permanent registrieren, was Sie wirklich hören. Und vielleicht gibt es bald ja auch eine kostenpflichtige Schnittstelle für Konsumforscher bei der NSA – dann würden sich ganz neue Wirtschaftskreisläufe schließen.

Fotos: Louis Koch, Wigmar Bressel, privat

Dieses Essay erschien im Jahr 2014 in der Zeitschrift ‚Objects No. 7‘ des Direktorenhaus – Museum für Kunst, Handwerk und Design

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