‚Immaterielles UNESCO-Kulturerbe‘ – ein Besuch in der Glasmanufaktur Harzkristall in Derenburg
5. Juli 2019, Derenburg. „Weltweite Bedeutung“ – so kann man den Titel übersetzen: Die „manuelle Fertigung von mundgeblasenem Hohl- und Flachglas“ ist seit dem Jahr 2015 ‚Immaterielles Kulturerbe – Bereich: Traditionelle Handwerkstechniken im Bundesweiten Verzeichnis der Deutschen UNESCO-Kommission, Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur‘. Höchste Zeit für einen Besuch in der nördlichsten Glashütte Deutschlands – bei ‚Harzkristall‘ in Derenburg in Sachsen-Anhalt.
Die Anfahrt durch die Hügeligkeit des nördlichen Harzvorlands ist malerisch – die Bundesstraße 6 ‚neu‘ ein Prunkstück des Aufbaus Ost. Brockenblick über viele, viele Kilometer, am Aufstieg zum Harz die markanten Schlösser Wernigerode und Blankenburg im Blick, fährt man schließlich über eine kurvige Landstraße durch ein kleines verträumtes Dorf – und da steht plötzlich merkwürdig unmotiviert unter der Adresse ‚Im freien Felde‘ tatsächlich auf freiem Felde, umgeben von Stoppelfeldern, die Glasmanufaktur: ein großer roter Backsteinbau mit einem 59 Meter hohem Schornstein.
Der Ort liegt wie im Nirgendwo. Man fragt sich: Warum hier? Warum Glas? Wer hatte Bedarf? Wer hatte das Wissen? Warum überhaupt? Warum so riesig? Für die Welfen, für die Herrscher des Landes Braunschweig?
Wie so oft, ist die Geschichte eine ganz andere. Wenn man weiß, dass die Manufaktur im Jahr 1946 gegründet wurde: von aus ihrer Heimat vertriebenen Sudetendeutschen, von Glasmachern aus der typischen Glasmacher-Ecke der Sudeten und des Bayerischen Waldes, die auf ihrem Weg Richtung Westen im Braunschweigischen landeten. Man hielt die sowjetische Verwaltung für provisorisch, konnte nicht wissen, dass noch im gleichen Jahr das geteilte Herzogtum und der Freistaat Braunschweig aufgelöst werden würden und die neuen Länder Niedersachsen und Sachsen-Anhalt entlang der ‚Zonengrenze‘ entstehen würden. Dass aus einer von den Alliierten des zweiten Weltkriegs verabredeten Interessenzone nur kurze Zeit später ihre neue Heimat Derenburg für 40 Jahre in einem von zwei neuen Deutschlands liegen würde – hinter dem sogenannten „Eisernen Vorhang“. Erst „Ostzone“ – dann manifestiert als DDR.
Geflüchtet, den Krieg überlebt – die Glasmacher aus den Sudeten baten um die Gründungserlaubnis für ihre ‚Hohlglasveredelungsgenossenschaft Wernigerode‘. Ein kurzes Glück – denn im Jahr 1949 erfolgte schon die Enteignung der frischen Genossen und die Überführung in den Volkseigenen Betrieb mit dem viel funkelnderen Namen ‚VEB Glaswerk Harzkristall Derenburg‘; „Kristall“ – gefühlt welch Hochstapelei in einem kriegsverwüsteten Land. Aber immerhin entschied der Rat des Kreises auch, dass dem nun volkseigenen Glaswerk eine größere Immobilie bessere Entwicklungschancen bieten würde – und der Betrieb erhielt das inzwischen ungenutzte frühere Überlandwerk Derenburg der ebenfalls enteigneten Landeselektrizitätsgenossenschaft auf freiem Feld als neue Betriebshülle für Öfen und Produktion.
So also kam die Glashütte zu ihrem kuriosen Sitz und ihrem Namen.
In den 1960er Jahren erfolgte eine Neuausrichtung: Harzkristall wurde mit anderen Kunsthandwerksbetrieben der Kunsthochschule Burg Giebichenstein im mehr als hundert Kilometer entfernten Halle an der Saale zugeordnet, wurde Lehr-Außenstelle, wurde von vielen Glasdesignern der DDR durchlaufen, man durfte experimentieren, durfte devisenbeschaffende Dinge für den Handel mit dem Westen entwickeln und produzieren.
Nach dem Jahr 1990 wieder Ungewissheit, bis schließlich die Treuhand das Glaswerk an das Land Sachsen-Anhalt verkaufte, das bis zum Jahr 2004 den Weiterbestand sicherte. Die Kunsthochschule blieb Partner; weitere Hochschulen kamen hinzu.
Dann kam Gerhard Bürger, ein Niedersachse, verliebte sich in die Glasmanufaktur, erwarb sie vom Land, sanierte, konzeptionierte neu und um, schmiedete weitere Partnerschaften – vor allem aber gab er Geld; er war nicht bereit, dieses inzwischen entwickelte kulturelle Erbe des Harzvorlandes aufzugeben. Und inzwischen ist es auch Teil seiner privaten Stiftung, die den Erhalt sichern soll – und in manchen guten Jahren auch die Glasmanufaktur die Stiftung.
Nun also ‚Immaterielles UNESCO-Kulturerbe‘ gemeinsam mit solch anderen renommierten Manufakturen wie Poschinger oder Lamberts Waldsassen, der Baruther und der Gernheimer Glashütte. Der Titel ist jedoch nicht wirklich nur „immateriell“, soll nicht nur auf die Bedeutung hinweisen, sondern verpflichtet die zertifizierten Betriebe – zumeist Manufakturen – zum Mitmachen: zum Ausbilden, zur Öffentlichkeitsarbeit, zur Aktivität.
Aber er ist auch gut fürs Marketing, er stützt mühsam Errungenes: Fährt man auf die Glasmanufaktur auf dem freien Feld zu, so sieht man bald die Parkplätze, Busparkplätze und Hilfsparkplätze auf einer Wiese… jährlich besuchen eine Viertelmillion Menschen Harzkristall. Besuchen die Glas-Einkaufwelt, genießen den Brockenblick vom neuen hauseigenen Weinberg, nutzen den riesigen Kinderspielplatz im Rahmen ihres Familienausfluges. Bis zu 40 000 Menschen nehmen an den Führungen teil. Wer will, kann sich in das Handwerk des Glasmachens ganz praktisch einführen lassen: Tages- und Wochenseminare im Glasblasen, vielleicht bald auch im Gravieren, individuelle Gläser und Lampenschirme, Plätze für freischaffende Künstler, für Studenten, die die Technik der Hütte nutzen können und auch schon nutzen – ja es gibt sogar noch die inzwischen renovierten Gästezimmer zum Übernachten aus der Kunsthochschul-Ägide, jetzt für neue Residenten.
Wenn man so will, führt einen der Begriff ‚immateriell‘ leicht auf einen falschen Pfad – denn bei Harzkristall wird manufakturelles Handwerk ganz konkret und zum Anfassen praktiziert. Jahrtausendealtes Wissen, ganz materiell. Fahren Sie unbedingt einmal hin und erleben Sie die Faszination selbst…
Fotos: Wigmar Bressel
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