André Scheffler wird Geschäftsführer der Besteckmanufaktur von Koch & Bergfeld

21. Januar 2023, Bremen. Geduld ist keine Tugend – aber sie ist wichtig, wenn man eine der interessanten Positionen in der deutschen Wirtschaft erreichen will. Oder wie würden Sie es bezeichnen, wenn es um ein mehr als 190 Jahre altes und unabhängiges Familienunternehmen geht? André Scheffler ist alt genug. Er ist 61. Jung und dynamisch im Kopf. Es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Er hat anderthalb Jahre auf seine Einstellung gewartet. Er hat locker durchgehalten. Nun wird der langjährige Vertriebsleiter der Porzellanmanufaktur Fürstenberg neuer Geschäftsführer der Besteckmanufaktur von Koch & Bergfeld in Bremen. Es geht für ihn vom Porzellan ins Silber. Er verspricht uns allen: „Ich werde mein gesamtes Herzblut in die Weiterentwicklung dieses Unternehmens stecken.“ Gründungsjahr 1829 – aber jede Generation muss es erhalten und in die nächste weitertragen.

Scheffler kommt aus Bad Zwischenahn, die Gemeinde mit eigenem „Meer“, das der drittgrößte See Niedersachsen ist. Die Region heißt Ammerland, wird durch Baumschulen geprägt und bereichert durch deren privat-öffentliche Rhododendron-Parks – berühmt ist sie auch für den ‚Ammerländer Löffeltrunk‘ aus dem Zinnlöffel in der linken Hand und dem Spruch, den die beiden sich Zuprostenden im Wechsel sprechen: „Ick seh di! Dat freit mi! Ik sup di to! Dat do! Ik heb di tosapen! Hest’n Rechten drapen! So hebt wi dat immer doh‘n! So schall dat ok wieter goh’n!“ Plattdeutsche Kultur, immer noch gesprochen, Prost dem, der im Ammerland mit dem Zinnlöffel unterwegs ist – Achtung: in der linken Hand, die rechte jederzeit frei für den Griff zur Waffe gegen mögliche Unterknechter aus dem Süden… im Grenzland zu den Friesen, die übergriffigen und respektlosen Missionaren notfalls mal den Kopf abschlagen, solche Menschen sind das da halt.

Manufakturen-Blog: So verliert man offensichtlich talentierte Mitarbeiter - Gottfried Kochs 'Spaten', den Wilkens nicht produzieren wollte, weswegen Koch kündigte und dessen Entwurf immer noch einen größeren Anteil am Umsatz von Koch & Bergfeld ausmacht (Foto: Koch & Bergfeld Besteckmanufaktur GmbH)

So verliert man offensichtlich talentierte Mitarbeiter – Gottfried Kochs ‚Spaten‘, den Wilkens nicht produzieren wollte, weswegen Koch kündigte und dessen Entwurf heute immer noch einen größeren Anteil am Umsatz von Koch & Bergfeld ausmacht.

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Der sehr viel feinsinnigere und sehr viel weniger bäuerliche Scheffler hat in den 1980er Jahren Betriebswirtschaftslehre in Münster studiert, ist Diplom-Kaufmann. Seine Stationen waren unter anderem Parfums Christian Dior, der Strumpfhersteller Falke und hier wieder die Marken Dior sowie Joop, die Sara-Lee-Group, Carl Albani in Augsburg, EganaGoldpfeil – und dann eben die historische Porzellanmanufaktur Fürstenberg, gegründet im Jahr 1747 von Karl dem Ersten (1713-1780), Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, die Nummer Drei der berühmten Vier bestehend aus Meissen, KPM und Nymphenburg.

Nun also Koch & Bergfeld. Die Silberschmiede wurde von Gottfried Koch, der bei Wilkens gelernt hatte, im Jahr 1829 gegründet, weil sein Lehrherr die von ihm entworfene Alternative zur bestehenden Wilkens-Version des berühmten ‚Spaten‘-Bestecks (die älteste europäische Besteckform gleich nach dem geschnitzten Holzlöffel) nicht produzieren wollte. Koch kündigte, ging nochmal auf Wanderschaft, lernte Ludwig Bergfeld kennen, man heiratete auf dem Durchweg in Hannover zwei Schwestern – voilà. Aus ‚G. Koch‘ wurde Koch & Bergfeld.

Die Kinder der Firmengründer beschafften eine Dampfmaschine, erfanden um das Jahr 1860 herum das Verfahren, wie man Stahlwerkzeuge herstellte und zum Schneiden und Prägen des weicheren Silbers einsetzte – die Preise für Silberbesteck stürzten auf ein Zehntel ab, wer von den Mitbewerbern nicht nachmachte, ging pleite. Große Teile des Bürgertums konnten sich auf einmal das begehrte Besteck der Superreichen der bisherigen Zeiten leisten. Bestens für die Gründerzeit, die viele Menschen viel besser situierte. Zwanzig Jahre später hatte man 800 Beschäftigte und war reich.

Bergfelds schieden nach hundert Jahren aus, Kochs verkauften im Jahr 1989, kehrten jedoch nochmal als Minderheitsgesellschafter in den 2000er Jahren in die Immobilienbesitzgesellschaft (Stichwort: „Neustädter Schlösschen“) für 12 Jahre zurück.

Keine deutsche Besteckmarke steht so für Echtsilber (925er Sterling), wie diese: rund 92,5 Prozent der gefertigten Bestecke sind aus Sterlingsilber; Koch & Bergfeld entwarf im Jahr 1967 den UEFA Champions-League-Pokal, die Korpuswerkstatt inzwischen viele weitere Pokale und Trophäen. Das Besteck reiste früher auf den Ozeandampfern des Lloyd, liegt heute in vielen deutschen Botschaften auf dem Tisch, wurde von den Vereinigten Arabischen Emiraten vor einigen Jahren als Gastgeschenk verwandt – und auch US-Präsident Barack Obama speiste auf Deutschland-Besuch mit Gottfried Kochs ‚Spaten‘. Von 1829.

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Fotos & Videos: Wigmar Bressel

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Eckard Christiani: „Ist die Art und Weise, wie wir leben, die richtige?“

26. August 2022, Berlin. Er glaubt an das Nachhaltigkeits-Thema Manufaktur. Entwickelte eine Konzeption für eine eigene Manufakturen-Zeitschrift, fertigte einen Prototypen, reiste auf der Suche nach Partnern durch die Republik – aber der Mut der Manufakteure war nicht da. Jetzt ist Eckard Christiani von der Designagentur Quintessense mit seinem neuen Projekt unterwegs: der Bücherreihe ‚Morgen – wie wir leben wollen‘. Bücher mit den Schwerpunkten Ernährung, Wohnen, Gesundheit, Medien, Mobilität, Digitalisierung, in denen er eine Vielzahl von Interviews abdruckt, die er unter der Überschrift Nachhaltigkeit und Zukunft geführt hat – mit Fachleuten, Politikern und Prominenten. Und einem Jeden von uns steht die Möglichkeit offen, diese Bücher zu kaufen und die Ideen und das Wissen verbreiten zu helfen. Zeit für ein Gespräch.

Lieber Herr Christiani, wie kam es denn zu der Bücherreihe ‚morgen‘?

Schon als Student wollte ich Bücher machen. Es war immer mein Ziel, Bücher zu gestalten und herauszubringen, die komplexe Inhalte auf attraktive Art und Weise transportieren. Ich wollte nichts weniger, als das Buch neu erfinden. (lacht)

Als dann die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 Fahrt aufnahm, wurden viele Kunden-Projekte auf Eis gelegt, und ich hatte plötzlich enorm viel Zeit! Da dachte ich mir: Wenn Bücher machen, warum nicht jetzt?

Im Urlaub in Österreich kam mir die Idee zur Buchreihe morgen – wie wir leben wollen. Durch die Corona-Pandemie begannen alle nachzudenken, das Leben änderte seine Richtung und alles wurde plötzlich auf den Prüfstand gestellt: Ist die Art und Weise, wie wir leben, die richtige? So habe ich mir für die erste Staffel der Reihe zwölf Themen überlegt, die für uns gesellschaftlich wichtig sind und über die ich mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern sprechen und nachdenken wollte.

Inzwischen sind vier Bücher erschienen.

Ja. Zu den Themen Ernährung, Medien, das weite Feld Umwelt und Wohnen. Zur Buchmesse in Frankfurt erscheint Band 5 zum Thema Gesundheit. Dann folgen Mobilität, Gartenbau und Landwirtschaft sowie Digitalisierung. Ich bin sehr neugierig unterwegs! Aber ich kann mir das natürlich nicht alles selbst ausdenken; also habe ich mir für jedes Thema, jedes Buch zwölf Expertinnen und Experten gesucht: Menschen, die dazu etwas zu sagen haben – auch mal Prominente oder Politikerinnen und Politiker. Diese Gespräche sind für mich der eigentliche Kick, der eigentliche Antrieb, diese Bücher zu machen. Ich habe bislang auf diesem Weg mit 65 Menschen gesprochen, die richtig etwas zu erzählen hatten und die ich sonst nicht so ohne weiteres kennengelernt hätte. Es ist also auch ein bisschen egoistisch.

Nein, da würde ich widersprechen – das ist nicht egoistisch. Das ist doch wie mit meinem Manufakturen-Blog: Auch sie stellen ja ihre Ergebnisse der Allgemeinheit zur Verfügung und zur Diskussion. Es ist ja kein Gesetz, dass Arbeit nicht weiterbilden oder spaßmachen darf. Irgendetwas stößt man auch immer an oder bewegt etwas weiter – auch wenn man es nur in seltenen Fällen erfährt.

Es gab unglaublich spannende Gespräche – auch mit Prominenten wie Schauspieler Hannes Jaenicke, den ich zwischen seinen Krimi-Drehs in Amsterdam während seines Frühstücks interviewen durfte. Oder mit Renate Künast im Bundestag, mit „Mr. Media“ Thomas Koch oder mit Barbara Becker. Aber natürlich waren auch die Gespräche mit weniger bekannten Koryphäen wie Professor Glaubrecht aus Hamburg hochinteressant. Er hat kürzlich ein Buch mit sage und schreibe tausend Seiten herausgebracht: „Das Ende der Evolution“. Da geht es um das drängende Problem des Artensterbens. Wirklich lesenswert.

Manufakturen-Blog: die Bücher der morgen-Reihe von Eckard Christiani (Foto: Verlag)

…die Bücher der morgen-Reihe

Fassungslos ließ mich ein Gespräch mit Moritz Riesewieck für das Medien-Buch zurück. Wir sprachen darüber, was Menschen alles anstellen, um unsterblich zu werden – oder was, um ihre Liebsten weiterleben zu lassen. Das Thema: „Unsere digitale Seele“. Was wird aus unseren Daten nach unserem Ableben?

Ich habe für mich eine Nachlassverwalterin bestellt. Ich hatte auch überlegt, ob ich für meine Eltern – im Jahr 2020 verstorben – eine Erinnerungs-Homepage einrichte; aber hätten die das gewollt?

Es gibt in den USA einen Mann, der seinen erkrankten Vater immer und immer wieder interviewt und nach dessen Tod eine virtuelle Person – den Dad-Bot – programmiert hat, mit der er und seine Mutter sich seitdem immer mal wieder austauschen können.

Das gibt es als Projekt auch mit den letzten noch lebenden Holocaust-Überlebenden – das ist für solche Zwecke des eindringlichen Erlebens bestimmt noch spannender, als nur Video-Interviews. Andererseits tritt uns so via Avatar jetzt auch ABBA entgegen…

Trauerarbeit ist wichtig. Und sie sollte nicht verhindert werden, weil man ständig im virtuellen Kontakt verharrt.

Fünfzehn Uhr ist sonntags immer Kaffee mit Papa.

Genau. Ich weiß es nicht.

War es schwierig an die Gesprächsteilnehmer heranzukommen?

Nein. Es ist mir nur zweimal passiert, dass potentielle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nach der Auflage des Buchreihe gefragt haben: „Wie hoch? 3000 Stück? Nein, dafür habe ich dann doch keine Zeit.“ – Da denke ich: Die haben schon ihre Bühne – und brauchen meine nicht.

Die allermeisten machen mit. Manches Mal ist es schwierig einen Termin zu finden. Aber das ist ja auch normal. Wer etwas zu sagen hat, wird nicht nur von mir gehört.

Wie bringt man denn eine Auflage von 3000 Stück unter die Menschen?

Zunächst ist die Buchreihe als Corporate Publishing-Projekt für die Buchbinderei Integralis in Hannover in Leben gerufen worden. Integralis will damit zeigen, welch tolle Bücher sie dort produzieren können. Eine weitere Auflage geht direkt in den Buchhandel. Das heißt, man kann die Bücher ganz normal in der Buchhandlung bestellen. Oder direkt beim Verlag.

Man kann aber auch als Unternehmen diese Bücher für sich entdecken und sagen: Ich möchte mich auch auf diesen Zukunftsfeldern präsentieren. Und: Ich lasse die Reihe von Herrn Christiani für meine Unternehmung individualisieren – an mein Corporate Design anpassen – und verschenke sie an meine Kunden, um mit diesen in einen Dialog zu treten. Man kann sein eigenes Cover bekommen, sein eigenes Vorwort oder sogar ein eigenes Kapitel. Hochwertigkeit spielt in der Produktion eine besondere Rolle.

Deswegen sind die Bücher auch so schön verarbeitet.

Genau. Aber gleichzeitig ist es ein Commitment und Statement, wozu sich solch ein Unternehmen bekennt und was es umtreibt. Wie gehen wir in die Zukunft? Ein einfaches ‚weiter so‘ – wohl eher nicht.

Sind die Bücher radikal genug? Oder wollen sie garnicht radikal sein?

Es sind keine Kampfschriften. Es geht vielmehr um Fragen und Zukunftsideen, die ich interessant finde und über die ich mir Gedanken machen will.

Im Gesundheitsbuch geht es auch einfach um Wissensvermittlung: Wo stehen wir heute? Wo wollen wir hin? Oder: Wo geht es mit der Wissenschaft hin? Im Gespräch mit der Herzchirurgin Dilek Gürsoy rede ich über das Verpflanzen von Kunstherzen, mit Alexandra Renkawitz über die Frage, wie wir unser Mikrobiom im Darm gesund halten oder mit Professorin Claudia Traidl-Hoffmann über die körperlichen Auswirkungen der Klimaveränderungen. So bekommen wir eine Vorstellung von der Zukunft und ihren vermuteten Notwendigkeiten.

Wichtigste Erkenntnis aus ihrem Gesundheitsfragen-Buch?

Es gibt keine Geheimrezepte für ein langes gesundes Leben. Aber morgens eine frischgepresste halbe Zitrone in warmem oder kaltem Wasser in kleinen Schlucken zu trinken – das empfehlen alle. (lacht)

Fotos: Martin Specht, Verlag

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Ferdinand von Schirachs Vorschlag zur Erweiterung unserer bürgerlichen Grundrechte – eine Steilvorlage für die Manufakturen

22. November 2021, Bremen. „Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter der Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.“ Dies ist Artikel 5 der von Ferdinand von Schirach vorgeschlagenen Erweiterung der Grundrechte für uns Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union. Der Artikel-Vorschlag ist ein Plädoyer für eine Verbesserung unserer Welt, die den Mensch auch in Wirtschaft und Handel wieder zentraler ins Bewusstsein rückt und ihn aus dem Sumpf des ‚human capital‘ zieht, hin zu Verantwortung und Respekt, ihm die Mindest-Würde gibt, die in Bangladeshs und Chinas Shareholder-Value-Fabriksmolochen noch nie vorhanden war.

Ferdinand von Schirach ist als Buchautor, Dramatiker und Schriftsteller bekannt, dessen Werke von verschiedenen Fernsehsendern erfolgreich verfilmt wurden und werden. Der frühere Strafrechtler greift existentielle Fragen im Rahmen der Aufarbeitung von Kriminalfällen auf, die den Fernsehzuschauer meist in-sich-hinein-fragend zurücklassen – so ist es eben mit den existentiellen Fragen nach Schuld und Gerechtigkeit; ein jeder kann nur versuchen, diese für sich aus seiner derzeitigen Position heraus zu bewerten und zu entscheiden – die Gesellschaft versucht es mit Gesetzesrahmen, die diese im weitesten Sinne zusammenhalten sollen.

Umso interessanter ist es, wenn der erfolgreiche Autor auf einmal ins Gesellschaftspolitische tritt; und entgegen seiner Profession nicht bewertend, sondern eher untypisch-gesetzgeberische Vorschläge für eine Verbesserung der Welt macht. In diesem Fall ganz Große: mit dem Vorschlag zur Erweiterung der Grundrechte für uns alle als Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union.

Sein Deklarations-Vorschlag ist:

„Wir,

die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union,

erachten die nachfolgenden Grundrechte, in Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten

als selbstverständlich:

Artikel 1 – Umwelt

Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung

Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

Artikel 3 – Künstliche Intelligenz

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

Artikel 5 – Globalisierung

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter der Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.

Artikel 6 – Grundrechtsklage

Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.“

Manufakturen-Blog: Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch - das Buchcover aus dem Luchterhand-Verlag (Foto: Wigmar Bressel)

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch – das Buchcover in EU-Blau und Gold aus dem Luchterhand-Verlag

Kurz und knackig die Stoßrichtung: Von Schirach fordert den Schutz des Menschen vor ausgeuferter Globalisierung und Digitalisierung – zumindest in der Europäischen Union. Heißt übersetzt: den Schutz vor den ‚Big Five‘ (nein, nicht Elefant, Löwe, Nashorn, Flusspferd und Tiger), sondern vor Alphabet, Facebook, Google, Amazon, Apple und ihren Nacheiferern. Er fordert uns auf, mit ihm gemeinsam von der Wirtschaft – auch unserer eigenen deutschen Industrie – den Wandel des Umgangs mit der ‚Werkbank-Verlängerung nach Asien‘ der Industriekonzerne mitzufordern, die Absurdität der Müllverschiffung nach Afrika und Sonstwo am jeweils anderen Ende der Welt unwirtschaftlich zu machen. Schlusszumachen mit hemmungs- und rücksichtslosem Rohstoff-Abbau dort, wo wir Otto-Normal-Verbraucher nicht so einfach hinschauen können; und uns aus Bequemlichkeit häufig auch nicht durchringen, es nachdrücklich zu wollen.

Für die Manufakturen ist das Manifest eine Steilvorlage: Ihr ethisches Handeln mit lokalen Produktions-Arbeitsplätzen, mit der Beschäftigung von Menschen jeden Ausbildungsstandes, oft auch von Menschen mit Einschränkungen, mit ihrem Bemühen um höchste Qualität, Langlebigkeit und damit Nachhaltigkeit, um kulturelle Identität, um das Einhalten aller Auflagen, die aus gesellschaftlichen Überlegungen heraus beschlossen werden, um Zusammenhalt und Regionalität – alles das erführe durch diese Front gegen die Produktions-Anonymität mit ihren absurden Auswüchsen (giftiges Kinderspielzeug, giftige Lebensmittel, giftige Kleidung, unsichere Konsumgüter) und dem Wissen, dass sie unter menschenverachtenden Umständen (ungeschützter Umgang mit Giften, Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt) hergestellt werden, eine große Erleichterung.

Ferdinand von Schirach stellt in den Erklärungen und Begründungen zu seinen Vorschlägen selbst die Fragen, die sich stellen: „Wie können wir den Herausforderungen unserer Zeit begegnen? Wie organisieren wir unsere Gesellschaft besser? Wir müssen heute erneut entscheiden, wer wir sein wollen.“

Wer wir sein wollen… Wir haben die Blutdiamanten aus den Bürgerkriegsländern ausgeschlossen. Wir haben die Fingerabdruck-Kartei für Gold eingerichtet. Wir haben verschiedene Treibhaus-Gase verboten. Ist es nicht an der Zeit, auch mit dem unethischen Ausbeuten der Menschen in den großen Zweit- und Dritt-Welt-Staaten durch Boykott schlusszumachen? „China und andere autoritäre Systeme können ja niemals ein Vorbild für uns sein“, schreibt von Schirach. „Das Wesen der demokratischen Politik ist der kluge Kompromiss, es sind die kleinen Schritte und der vorsichtige Ausgleich von Interessen. Vieles geht scheinbar zu langsam, aber genau dadurch achtet unsere Gesellschaft die Würde des Menschen, dadurch ist sie rechtsstaatlich.“ Er schreibt weiter: „Nichts hat eine solche Kraft wie der gemeinsame Wille der Bürgerinnen und Bürger. Es sind ja unsere Gesellschaft, unsere Welt und unser Leben. Und wir sind es, die Verantwortung für die Menschen tragen, die schwächer sind als wir.“

Von Schirach verbleibt nicht im Schriftstellerischen – es wurde ein gemeinnütziger Verein gegründet, der sich für die neuen Grundrechte einsetzt: Stiftung Jeder Mensch e. V. (www.jeder-mensch.eu). Unter dieser Adresse kann jeder EU-Bürger seine Zustimmung unter einen Appell setzen, der die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten auffordert, mittels eines Verfassungskonventes die benannten Probleme mittels der vorgeschlagenen neuen Grundrechte anzugehen.

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Jeder Mensch

36 Seiten

Luchterhand-Verlag, München

ISBN 978-3-630-87671-9

EUR 5,00

Ferdinand von Schirach steckt den Gewinn aus dem Buch in das Projekt ‚Stiftung Jeder Mensch e. V.‘

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Stephanie Saalfeld verlässt die Porzellanmanufaktur Fürstenberg

11. März 2021, Fürstenberg/Weser. Überraschung für die Porzellanwelt: Stephanie Saalfeld, seit 23 Jahren das Gesicht der niedersächsischen Porzellanmanufaktur Fürstenberg und elf davon als alleinige Geschäftsführerin, verließ im Februar 2021 das niedersächsische Pendant zum sächsischen Nationalheiligtum Meissen. Eine plötzliche Entscheidung offensichtlich – ein Interimsmanager musste her.

In knappen Worten heißt es in der Pressemitteilung des Unternehmens: „Unter ihrer Leitung wurde die Marke ‚Fürstenberg‘ als Premium-Marke weiterentwickelt und stand national wie auch international für Innovation, Qualität, Produktion in Deutschland sowie für handwerkliche Präzision. Stephanie Saalfeld hat die Porzellanmanufaktur auf eigenen Wunsch verlassen. Neuer Geschäftsführer ist seit dem 22. Februar 2021 der erfahrene Interims Manager André Neiß.

Der Aufsichtsrat dankt Frau Saalfeld für ihre langjährige Tätigkeit, ihr großes Engagement für das Unternehmen und wünscht Frau Saalfeld für die Zukunft alles Gute.“

Die berühmte Manufaktur, gegründet im Jahr 1747 durch Herzog Carl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel – ist heute immer noch in niedersächsischem Staatsbesitz und soll das erklärtermaßen auch bleiben, wie Ministerpräsident Stephan Weil erst am 4. Januar 2021 von der Deutschen Presseagentur (dpa) – von dieser unter dem Corona-Eindruck (wegen ihrer Kostenverursachung für den Landeshaushalt) nachgefragt – zitiert wurde: „Wir sind der Auffassung, dass wir solche kulturhistorisch wertvollen Institutionen erhalten sollten. Das fällt uns mal leichter, mal schwerer. … Es ist eine der ältesten und wichtigsten deutschen Porzellan-Manufakturen. Ich würde davor warnen, dass wir jetzt zu einem Ausverkauf von kulturellem Erbe kommen.“

Fürstenberg hat vor vier Jahren unter Saalfelds Führung erst seinen ‚Mitmach-Bereich‘ für Besucher und den musealen Teil im historischen Jagdschloss mit großem Aufwand (ca. 5 Mio. Euro) auf den neuesten Stand gebracht.

Foto: Martin Specht

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Wigmar Bressel: „Manufakturen spielen eine wirtschaftskulturelle Rolle“

26. Januar 2021, Bremen. Es ist Anfang Dezember 2020. Wigmar Bressel wartet auf die Abholung eines Dutzend Kartons mit Dokumenten. Zehn Jahre lang – seit Juni 2010 bis Oktober 2020 – war der Bremer Unternehmer Vorsitzender des Verbandes Deutsche Manufakturen e. V. In dieser Zeit diente ihm sein Büro in den Räumen der Firma Koch & Bergfeld auch als Geschäftsstelle. Jetzt erfolgt die Übergabe an Bressels Nachfolgerin. Die Unterlagen der vergangenen zehn Jahre hat der scheidende Vorsitzende bereits gesichtet, nun ist alles verpackt und soll auf den Weg zu ihr. Während wir am Telefon darüber sprechen, sitze ich an meinem Schreibtisch in Medellín. Auf einer Seite steht die Stele, die ein befreundeter Künstler geschaffen hat, auf der anderen eine Keramik der indigenen Gruppe der Shipibo aus dem Amazonasgebiet.

Beim Anblick der beiden Gegenstände denke ich, dass auch in Südamerika das Thema „Manufaktur“ spürbar und relevant ist.

Bei der Shipibo-Keramik handelt es sich um ein Gebrauchsobjekt, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen so entstehen konnte. Der Fertigungsprozess der indigenen Amazonasbewohner lässt sich natürlich nicht – allein schon wegen der gänzlich anderen ökonomischen Voraussetzungen –  mit dem einer Manufaktur in Solingen oder dem Bayrischen Wald vergleichen. Doch auch er ist einzigartig und unterscheidet sich fundamental von der industriellen Herstellung in einer globalisierten Welt. Es zeichnet Bressel aus, dass er in solchen Zusammenhängen zuhause ist. Obwohl er bestens mit den technischen Details der Manufakturprodukte vertraut ist, hat sich doch in vielen Gesprächen gezeigt, dass sich Bressels Gedanken auch auf einer intellektuellen Ebene bewegen. Da geht es mehr um das Thema „Manufaktur“ an sich und dessen mögliche Relevanz im 21. Jahrhundert. Nicht zuletzt aus diesem Grund zieht Wigmar Bressel in meinem Interview ein Resümée der vergangenen zehn Jahre und wagt einen Ausblick auf die kommenden.


„Nicht das Schaufenstermarketing, sondern einen Trend befördern“

Martin Specht: Du bist einer der Gründer der ‚Deutschen Manufakturen‘, – habt ihr von Beginn an eine konkrete Zielsetzung verfolgt?

Wigmar Bressel: In der Zeit der Jahrtausendwende begannen ernsthafte Mittelständler mit zählbaren Beschäftigtenzahlen – jeder mit zehn bis 150 Mitarbeitern – damit, den Manufaktur-Begriff aufzugreifen und ihn auf sich anzuwenden. Damit wollten sie sich von der Industrie abheben, – aber ebenso vom Kunsthandwerker in seiner Werkstatt. Damals lag es in der Luft, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Dann kamen Verkaufsmessen für den Endverbraucher auf. Da sind sich viele der späteren Verbandsmitglieder begegnet: Koch & Bergfeld, Mühle Rasierpinsel, die Sächsische Porzellanmanufaktur Dresden, die Porzellanmanufaktur Meissen, KPM, die Hemdenmanufaktur Campe & Ohff, Messerhersteller wie Gehring, Vickermann und Stoya, Puls Maßanzüge. Bei diesen Aufeinandertreffen entstand die Idee, dass man den Manufaktur-Begriff etwas fester klopfen müsste, damit er sich besser erklären aber auch nutzen lässt. Daraus folgerte irgendwann, dass wir dazu etwas gründen müssten.

Damit war ein gemeinsames Ziel gewissermaßen schon definiert…

Ja, genau, es sollte eine Plattform geschaffen werden, auf der der Manufaktur-Begriff für unsere Zeit entwickelt wird. Wichtig war aber auch, dass es für das einzelne Mitglied nicht zu viel kosten würde. Wir waren ja schon alle in den verschiedenen Standesorganisationen, wie etwa dem Schneidwarenverband, dem Lederwarenverband und wie sie alle heißen. 2010 gründeten wir im Schütting – der Handelskammer – in Bremen den Verband „Deutsche Manufakturen“ als eingetragenen Verein. Bremens Wirtschaftssenator Martin Günthner (SPD) hielt die politische Auftaktrede, der Designer und Intellektuelle Heinz-Jürgen Gerdes sprach über „Was Zukunft hat“ – es war ein würdiger Start in schönem Rahmen.

Es hat dann noch sechs Jahre gedauert, bis die Definition des Manufaktur-Begriffs feststand. Warum war das so aufwendig?

Tatsächlich waren Jahre der ehrenamtlichen Diskussion notwendig, bis wir eine Definition hatten, von der alle sagten: ‚Darunter würde ich mich versammeln‘. Dazu mussten wir natürlich zuerst die Kriterien festlegen. Man würde der Bandbreite der Manufakturen nicht gerecht werden, wenn man zum Beispiel sagt: ‚Nur wer über den Einzelhandel verkauft, der darf bei uns Mitglied werden.‘ Doch man muss sich als Manufaktur ganz klar von den Dienstleistern absetzen. Man hat ja eine eigene Produktpalette samt Produktentwicklung. Und dadurch eben auch ein ganz anderes Risiko. Das ist für eine Manufaktur insgesamt eine weitaus größere Aufgabe, als lediglich auf einen Kundenauftrag zu reagieren!

Die Definition ist heute auf einer eigenen Internetseite (www.manufaktur-definition.de) für jedermann einsehbar. Wie fielen denn bislang die Reaktionen darauf aus?

Bei der Definition bin ich nach wie vor sehr stolz darauf, dass sich bis heute mehr Betriebe dazu bekannt haben, als lediglich die, die auch Mitglied im Verband sind. Man muss anderen eben Anknüpfungspunkte bieten. Das ist sehr wichtig, damit von außen Kreativität in den Verband hereingetragen wird. Und wir sind im Lauf der letzten zehn Jahre auch stetig gewachsen. Heute hat der Verband 34 Mitglieder.

Der Manufaktur-Begriff erlebte in den vergangenen Jahren eine Art Renaissance, – hat sich durch die Arbeit des Verbandes etwas an der öffentlichen Wahrnehmung geändert?

Ich glaube schon. Wenn zuletzt ein Journalist bei mir anrief und eine Information zu einem Thema haben wollte, das mit den Manufakturen zu tun hat, stellte ich fest, dass es praktisch niemanden mehr gibt, der nicht schon vorher im Internet die Definition gelesen hat. Es war gut, dass wir heute etwas haben, das in einem mehrjährigen Diskussionsprozess abgeklopft wurde und tatsächlich tragfähig ist. Die Definition wurde im Wesentlichen von Hartmut Gehring und mir geprägt. Ich glaube, darauf können wir wirklich stolz sein. Menschen, die ihren Mini-Betrieb oder ihr Kunsthandwerk Manufaktur nennen möchten, müssten jetzt eigentlich wissen, dass der Begriff auf sie nicht zutrifft. Es ist Quatsch, wenn der Fliesenleger sich Fliesenmanufaktur nennt – denn das kann nur ein Fliesenhersteller sein, der im manufakturellen Sinne produziert. Da muss man nach der Definition auch nicht drüber verhandeln – weil es keinen Sinn macht.

Gibt es sonst noch etwas, von dem du sagen würdest: ‚Das haben wir in den zehn Jahren geschafft!‘?

Ein weiterer wichtiger Schritt war die Entwicklung unseres Logos sowie das ‚Deutsche Manufakturen-Siegel‘, das den Kunden Orientierung gibt. Das hat wiederum einige Zeit gedauert, weil viele Überlegungen zu berücksichtigen waren. Aus der Beschäftigung mit dem Siegel entstand die Idee, mit dem ‚Manufakturprodukt des Jahres‘ einen Wettbewerb auf die Beine zu stellen.

Das Ziel dabei war, sich mit den Manufakturprodukten möglichst abstrakt zu beschäftigen. Letzen Endes sind solche Dinge – die Preise, die Laudatien – ja eine Fiktion, aber wir brauchen diese Fiktion, – Dinge an die wir glauben und für die wir bereit sind, Zeit aufzubringen, weil sie uns inhaltlich weiterbringen und weil sie uns verbinden.

Und dann ist da noch eine kleine Anzahl von Publikationen, die in unserem eigenen Verbands-Verlag erschienen sind – ‚Wer schreibt, bleibt‘, sagt ein altes Sprichwort. Auch damit haben wir etwas für die Zukunft getan.

Mich persönlich hat die intensive Beschäftigung mit dem Thema zur Gründung des Manufakturen-Blogs animiert – rund 100 Artikel, Berichte und Meldungen sind in ihm bisher schon erschienen – sie werden jeden Tag gelesen, manche wurden bereits an die 2000 Mal abgerufen, andere natürlich auch nur 150 Mal, so, wie es die Leute interessiert und wonach sie suchen. Daraus entstanden Social-Media-Aktivitäten, teilweise mit sehr interessanten Abonnenten aus Medien und eben der Manufakturen-Branche.

Dazu passen auch die sogenannten Zukunftsforen, die einmal im Jahr stattfinden…

Die Zukunftsforen sind eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es war klar, dass man sich treffen muss, um die Inhalte weiterzudiskutieren. Mir war ganz wichtig, dass wir eine Vorwärtsgewandtheit ausdrücken. Deswegen auch der Begriff ‚Zukunftsforum‘.

Auf dem Zukunftsforum 2019 hattest du angekündigt, bei der kommenden Mitgliederversammlung nicht mehr für den Vorsitz kandidieren zu wollen. Warum?

Ich bin der Meinung, dass es für so eine Organisation wie den Verband ‚Deutsche Manufakturen‘ wichtig ist, dass nach einer gewissen Zeit ein neuer Blick ermöglicht wird. Mein Vater war Vorsitzender verschiedener Vereine. Zum Teil über 30 Jahre lang. Da konnte ich beobachten, dass es Mitglieder gab, die im Laufe der Zeit unzufrieden wurden, weil – zum Beispiel – Veranstaltungen immer auf die gleiche Art gemacht wurden. Das habe ich mir früh abgeguckt und gesagt, dass es irgendwann an der Zeit ist, dass jemand anderes den Vorsitz übernimmt, und ich hatte mir eine Stellvertreterin aufgebaut. Brigitte Federhofer-Mümmler wurde jetzt im Oktober dementsprechend einstimmig gewählt. Ich finde es sehr gut, dass jetzt eine Frau an der Spitze eines Wirtschaftsverbandes steht. Das gibt es bislang nicht so oft.

Wird es die Zukunftsforen auch weiterhin geben?

Das kann ich natürlich nicht sagen. Es obliegt dem neuen Vorstand. Angekündigt wurde es erstmal für das Jahr 2021, – in der Hoffnung, dass es trotz Corona auch möglich ist. Aber ich wüsste auch nicht, was die Alternative wäre. Man muss sich verbandsintern mindestens einmal im Jahr sehen und für die innere Abstimmung die anstehenden Fragestellungen diskutieren.

Wie siehst du die nächsten zehn – oder fünf – Jahre für den Verband?

Ich denke, dass der Verband Allianzen mit anderen Bewegungen schließen sollte, die in die gleiche Richtung streben. Wir sollten den Mut haben, auch politisch zu werden. Politisch sein, bedeutet, dass wir eben auch bereit sind auszusprechen: ‚Wir sind globalisierungskritisch‘. Denn das ist ja genau das, was die Betriebe ausmacht, die alles selbst herstellen. Ich bin davon überzeugt, dass dies die Fragestellung für die Zukunft ist. Wenn man darauf nicht eingeht, wird er sich möglicherweise nicht weiterentwickeln. Man muss jetzt den Mut haben, sich einer größeren Sache zu stellen. Viele Lebensmittelmanufakturen sind bei ‚slow food‚, weil es ihnen sinnvoll erscheint. Wenn solche Konglomerate schon da sind, kann man sich ihnen ja annähern und zusammenarbeiten, vielleicht Allianzen schließen – im Sinne des Gemeinsamen. Das ist meines Erachtens die aktuelle Herausforderung. Es ist mir klar, dass es viel Arbeit macht und man die nötigen Mittel aufbringen und einsetzen muss. Aber als Verband muss man sich überlegen, ob man dazu in der Lage ist, eine Bewegung zu fördern, anstatt nur zu sagen: ‚Wir wollen mehr von unseren Produkten verkaufen.‘ Also eben nicht das Schaufenstermarketing, sondern einen Trend befördern. Ich könnte mir vorstellen, dass es Sinn macht, so etwas Großes anzugehen. Die anderen Strukturen sind in unserem Verband ja jetzt alle da, erprobt und geübt. Es muss jetzt eine größere Vision her. Doch man muss sie sich auch zutrauen und dann mutig voranschreiten.

Klingt, als sähen das nicht alle Verbandsmitglieder so?

Die allermeisten Manufakturen – vor allem die kleineren – sind sich nicht darüber im Klaren, dass sie eine wirtschaftskulturelle Rolle spielen, aus der sie ja auch etwas machen dürfen. Es wird – nach meinem Empfinden – zu klein gedacht und man traut sich zu wenig zu. Man könnte ruhig stärker seine Produktionsorte prägen. Gerade im Hinblick auf die Manufakturen denke ich, dass die Globalisierung so abgehoben hat, dass darunter Platz für viel Neues entstanden ist. Da, glaube ich, könnte man ansetzen.

Foto: Julia Francesca Meuter

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Pascal Johanssen: „Das Anstiften von positiven oder kritischen sozialen Verhaltensweisen“

23. Januar 2020, Berlin. Wenn aus dem Direktorenhaus in Berlin eine neue Publikation angekündigt wird, steigt die Spannung: Niemand hat bisher auf eigenes Risiko so viele Veröffentlichungen zu Manufaktur-Fragen riskiert, wie Pascal Johanssen. Jetzt legt er das Buch ‚Handmade in Germany – Manufactory 4.0‘ vor. 260 Seiten Texte, Interviews und Fotos, in und mit denen gemeinsam er der Frage nach der Manufaktur in Gegenwart und Zukunft nachgeht. Und damit die Gedanken auch aus dem deutschsprachig-kulturellen Schmortopf entweichen können, ist das Buch komplett zweisprachig deutsch-englisch gehalten – 38 Euro Kaufpreis sind gut investiertes Geld, wenn man wissen möchte, wohin die Reise der Manufakturen gehen und welche Bestimmung den Manufakturen in unserem Wirtschaftssystem zukommen könnte…

Ja, Sie haben richtig gelesen: Bestimmung. Denn genauso, wie das Erlernen von handwerklichen Fähigkeiten unser Gehirn anregt und weiterentwickelt, so muss man nur das „Vieles geht“ der freien Kräfte der liberalisierten und globalisierten Marktwirtschaft gedanklich für einen Augenblick verlassen, um sich zu erinnern, dass Dinge und Systeme eine Bestimmung haben können, die sich aus ihrer jeweiligen Immanenz der vielen kleinen typischen Teilchen zusammensetzt und nicht nur Problem, sondern zugleich Lösung anbietet. Bei Pascal Johanssen im Buch klingt das dann so:

„Die These dieses Buches ist, dass wir ein neues Qualitätsverständnis für unsere Produkte brauchen, das Solidität, Agilität und Pietät verbindet. … Pietät schließlich meint in diesem Zusammenhang, eher im antiken Wortsinn, den Respekt vor dem Menschen, als ‚pflichtbewusstes Benehmen gegenüber Mensch und Gott‘. Den Produkten muss eine ethische Komponente eingewoben sein, die ausspricht, dass eine positive Zukunft nicht allein durch technologische und ökonomische Möglichkeiten angetrieben wird, sondern zudem von einer kulturellen Leitidee getragen wird: nämlich von der Vision, ein gutes Leben für möglichst weltweit zehn Milliarden Menschen organisieren zu können.“

Ist das nicht ein aufregendes Zitat aus dem Buch? Daran erinnert zu werden, dass man als kleine Manufaktur und Kunsthandwerker in irgendwo doch am Großen und Ganzen mitarbeitet, man für die Nachhaltigkeit in der Konsumgüter-Branche mit verantwortlich sein könnte?

Ich jedenfalls verabredete mich mit Pascal Johanssen sofort zu einem Telefongespräch über sein neues Buch:

„Das Buch soll eine Lebens- und Arbeitseinstellung zusammenfassen“

Welche Idee steckt hinter dem neuen Buch?

Mir geht es darum, aufzurütteln. Wir haben viele facettenreiche Unternehmen mit Qualitäten, die weit über das reine Produzieren schöner Produkte hinausreichen. Aber niemand weiß das. Viele bewegen sich in Nischen. Man hat das Gefühl, dass das notwendige ‚übergeordnete Gespräch‘ fehlt. Das war mein Ansatzpunkt für das Buch: die Akteure selber zu Wort zu bringen. Sie dazu zu bringen, Chancen und Probleme selbst zu formulieren.

Das Buch ist mit einem aufwändig geprägten Hardcover ausgestattet – aber nach dem Lesen und Betrachten der vielen Fotos versteht man doch: Es ist eigentlich ein Arbeitsbuch mit Thesen zu Manufaktur und artverwandter Produktionsformen. Was hat dich zu dieser Buchausstattung bewogen?

Das Buch ist ja nicht in erster Linie nur für Manufakturen gedacht. Es ist für Leser gedacht, die die Vermutung haben, dass hinter der Fassade der „romantischen“ Manufakturen, von denen man ab und zu liest, eigentlich etwas ganz Anderes steckt: nämlich heutige Unternehmen, die in der Gegenwart leben, aber nicht industriell produzieren und nicht jeden Trend mitmachen. Das Buch soll eine Lebens- und Arbeitseinstellung zusammenfassen.

Mir ging es tatsächlich darum, dass auch Unbeteiligte Eindrücke aus dieser Welt bekommen können – quer durch die Gewerke, quer durch die unterschiedlichen Größen der vorgestellten Betriebe. Bilder sind da natürlich ebenso wichtig wie Texte. Die Typografie des Buches ist vielleicht etwas experimentell, na ja, das ist Geschmacksache!

Zum Inhalt. In deinem vorangestellten Essay fällt das Wort „Pietät“ auf. Was hast du dir bei der Einführung dieses Wortes in den Manufakturen- und Konsum-Gesellschafts-Diskurs gedacht?

Der Begriff Pietät wirkt ziemlich aus der Zeit gefallen, das dachte ich auch schon… er wird ja eher mit Bestattungsunternehmen im Verbindung gebracht. Mir ging es aber um etwas Anderes. Ich wollte ausdrücken, dass Unternehmen heute, nach allem was man weiß, eine Verantwortung tragen: für die Umwelt, den Konsum, das Anstiften von positiven oder kritischen sozialen Verhaltensweisen.

Manufakturen-Blog: Das neue Buch 'Handmade in Germany - Manufactory 4.0' von Pascal Johanssen - versehen mit Arbeitsmarken des Interviewers (Foto: Wigmar Bressel)

Das neue Buch ‚Handmade in Germany – Manufactory 4.0‘ von Pascal Johanssen (versehen mit Arbeitsmarken des Interviewers)

Dieses Verantwortungsbewusstsein trägt heute – gerade in Deutschland – jeder gern vor sich her, jedes Unternehmen, ob es jetzt Windkraftanlagen baut oder Müsli einrührt. Diese demonstrative „Verantwortung“ ist mittlerweile ein Standart-Dispositiv des Ethik-Marketings. Pietät ist leiser. Ein eingeschriebenes Gefühl für Angemessenheit, das man hat oder nicht. Die Produkte der Zukunft müssen neben ihren anderen Produktqualitäten mit einer Selbstverständlichkeit „Gutes“ bewirken, ohne das man darüber ständig reden muss.

Du meinst, du hast ein Wort gesucht, das von den Zeitgeist-Leuten noch nicht leichtfertig verbraucht wurde…

Ja. Zeitgeist ist ja nichts Schlechtes, aber die große „Verantwortungserwartung“, die die heutige Welt jedem abverlangt, macht alles so schwer. Eine selbstverständliche Leichtigkeit, ein intelligenter Umgang mit Ressourcen, wäre doch schon ausreichend.

Du weist im Buch den Manufakturen eine Bedeutung für die Nachhaltigkeits-Wende im Konsumgüterbereich zu. Siehst du in der Produktionsart von produzierendem Handwerk und Manufakturen eine Immanenz in der Frage von Nachhaltigkeit?

Ich habe mir immer die Frage gestellt: Welche Rolle spielt eigentlich ein nicht-industriell produzierendes Unternehmen heute noch? Soll es – wie ein Museum – an althergebrachte Fertigungstechniken erinnern? Natürlich nicht. Manufakturen sind auch nicht einfach Luxusunternehmen, die für die happy few produzieren. Das können gern die Luxuskonzerne übernehmen. Aus meiner Sicht knüpfen Manufakturen an den Werkbund-Gedanken an, an die Frage, was eigentlich ein gutes Produkt ausmacht, das sich in die alltägliche Lebenswelt von normalen Menschen einbringen kann. Die Lösung dieser Frage ist gar nicht so einfach, weil allen ethischen und emotionalen Wünschen immer eine wirtschaftliche Realität für alle Beteiligten entgegensteht. Die Beantwortung der Frage, was ein gutes Produkt heute ist, also die Aktualisierung des Werkbund-Gedankens, kommt an der nachhaltigen Produktion nicht vorbei. Für die Realisierung der Konsumwende haben Manufakturen tatsächlich eine aktuelle Relevanz! Sie können hier etwas leisten, was andere nicht können. Die anderen großen Themen – die Energiewende oder Mobilitätswende etc. – werden zwischen Politik und Industrie ausgehandelt. Hier haben Manufakturen keine messbare Wirkung, sie sind höchstens Ideengeber. Bei der privaten Konsumwende können Manufakturen einschreiten: sie bieten dem Kunden, der das gängige Industrieprodukt sieht und kennt, das etwas bessere Produkt. Die Alternative, die vielleicht sauberer produziert wurde, die etwas schöner ist, bei dem der Kunde vielleicht sogar denjenigen kennt, der es hergestellt hat. Das sind Qualitäten, die Industrieprodukte nur ganz schwer simulieren können.

Fotos: Philipp Haas, Wigmar Bressel

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Pascal Johanssen (ed.)

Handmade in Germany – Manufactory 4.0

deutsch/englisch, Hardcover

EUR 38,00

ISBN 978-3-89790-541-2

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„Es geht um uns selbst“ – Julia Francesca Meuter im Gespräch über ihr Buch ‚Vom Wert der Dinge‘

30. März 2019, Bremen. Im März 2019 erschien im Verlag Deutsche Manufakturen e. V. das Buch zur Masterarbeit von Julia Francesca Meuter: ‚Vom Wert der Dinge‘.

Meuter, Jahrgang 1992, ist in Neapel als Kind deutscher Eltern geboren und aufgewachsen, hat in Florenz den ersten Teil ihres Studiums (Bachelor in Industrie-Design) absolviert, den zweiten Teil in Bremen an der Hochschule für Künste (Master in Integriertes Design). In dieser Arbeit beschäftigte sie sich mit Manufakturen. Die Buchgestaltung war Teil der Masterarbeit.

Wigmar Bressel: Frau Meuter, sind sie durch Ihre Beschäftigung mit Manufakturen schlauer über diese und den ‚Wert der Dinge‘ geworden?

Julia Meuter: Über Manufakturen auf jeden Fall. Meine Vorstellung von Manufakturen entstammte dem, was ich von Manufactum her kannte: eine Welt von Produkten aus Holz oder Naturbelassenem – es ging eben mehr in Richtung Handwerk, als größere Produktionen, die größer als Dinge aus dem Handwerk sind. Es hat mir geholfen einen Einblick zu bekommen, den Begriff auch für mich zu definieren und zu beschreiben.

Wo liegt denn für sie die Bedeutung von Manufakturen und manufakturartigen Betrieben?

Das „Manufakturartige“ ist ja ein bisschen das Problem. Ich habe verstanden, dass es eine Grenze gibt, die der Manufaktur-Begriff umschreibt, sowie eine gewisse Art von Produkten und Ansprüche, die an diese Produkte gestellt werden. Und bei vielen Produkten kann man feststellen, dass das Etikett „Manufakturprodukt“ nur als Marketingbegriff verwendet wird – das Produkt dem jedoch nicht entspricht.

Haben Manufakturen ihrer Meinung nach Zukunft?

Ja. Ich glaube ja. In Anbetracht einer größeren Veränderung unserer Gewohnheiten und unserem Kaufverhalten, in unseren Bedürfnissen auch. Ich glaube, dass Manufakturen in unserer Gesellschaft zukünftig eine große Rolle spielen können. Wenn wir uns darauf einlassen, unseren Konsum etwas zu beschränken, dann können die Produkte, die Manufakturen anbieten, Teil dieser Veränderung sein. Deswegen noch einmal: ja.

Was hat sie im Rahmen ihrer Recherche am Meisten überrascht?

Da ich mich sehr für Entwicklungsprozesse interessiere, fand ich den historischen Hintergrund sehr interessant, aus dem heraus es zur Gründung von Manufakturen kam, die Begriffsentwicklung, wirtschaftliche und soziale Prozesse, die eine Rolle spielten. Außerdem überraschte mich die große Anzahl an unterschiedlichen Bereichen, in denen es Manufakturen gibt. Welche Vielfalt an Produkten hergestellt wird, die alle gebraucht werden. Es hat mich bereichert, darin Einblicke gewährt zu bekommen.

Glauben sie, dass sie selbst einmal in einer Manufaktur arbeiten werden?

Das könnte ich mir vorstellen. Wie sieht die Manufaktur der Zukunft aus? Wie kann man Veränderungen bei Produkten und im Auftritt gestalten? Die Mitarbeit an diesem Prozess fände ich spannend.

Führt sie ihr Weg jetzt zurück nach Italien? Oder bleiben sie in Deutschland? Oder ist es ihnen im Prinzip egal, wo sie arbeiten werden?

Ja, ich würde schon gerne zurück nach Italien. Aber nach vier Jahren in Bremen fühle ich mich hier auch ein bisschen zuhause. Meine Heimatstadt Neapel ist natürlich ein bisschen größer – aber ich muss zugeben, dass ich mich da auch vor allem in meinen Kreisen bewege, und weniger ein Großstadtgefühl habe. Neapel ist trotz der vielen Einwohner auch ein bisschen dörflich.

Was hält sie denn davon ab, jetzt die Werkstatt von Franco und Maria – zwei der Protagonisten ihres Buches – zu übernehmen?

Deren Werkstatt ist ja hauptsächlich handwerklich ausgelegt. Auch wenn ich es interessant finde, was sie machen, ist es nicht wirklich etwas für mich. Ich bin kein Künstler oder Kunsthandwerker. Ich bin Gestalterin. Vermutlich würde mich das rein Handwerkliche nicht erfüllen.

Aber es gibt ja viele Gestalter – ich denke zum Beispiel an Stefanie Hering aus Berlin, die ihr Porzellan ja auch ‚nur‘ entwirft und dann zum Beispiel von der Porzellanmanufaktur Reichenbach in Thüringen fertigen lässt. Es gibt viele Beispiele, in denen am Anfang der Unternehmensgründung ein Designer stand – der am Ende einen großen Fertigungsbetrieb hatte. Zum Beispiel Bernd T. Dibbern von der gleichnamigen Manufaktur. Sie sind gestartet mit einer Idee für Möbel oder Porzellan oder Glas – am Ende hat es ihnen keiner so hergestellt, wie sie es genau wollten. Dann haben sie es eben selbst gemacht – notgedrungen.

Manufakturen-Blog: Buchtitel 'Vom Wert der Dinge' (Grafik: Julia Francesca Meuter)

Buchtitel ‚Vom Wert der Dinge‘ (Grafik: Julia Francesca Meuter)

Ja, das stimmt. Ich bin jedoch auch kein Produktdesigner. Ich habe so zwar mal in Florenz mein Studium begonnen – aber ich mache gerne grafische Gestaltung und ich interessiere mich für breitere Prozesse, als nur für das Endprodukt an sich. Ich interessiere mich dafür, wie ein Produkt soziale oder menschliche Beziehungen verändern kann. Wie Manufakturen ein Teil einer anderen wirtschaftlichen Entwicklung sein könnten. Wie die Gesamtsumme der Prozesse unsere Entwicklung beeinflussen kann.

Aber die Frage ist dann ja: Wer ist ihr Auftraggeber? Wer hat daran ein Interesse? Wie kann man das einbringen – und zu welchem Zweck will man es einbringen?

Überall da, wo es Entscheidungsprozesse gibt, wo es Entwicklungsprozesse gibt, wo es Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Es geht ein Stück weit um den öffentlichen Raum, der gestaltet werden muss – und da reichen eben Architekten nicht aus, sondern es bedarf Kulturwissens und vieler Wissensrichtungen, damit ein Umbau oder ein Neubau nicht floppt. Dafür werden wir heute ausgebildet.

In ihrem Buch stellen sie ja die These auf, dass wir unsere Gesellschaften ohne große Verluste in unserem Konsumverhalten wandeln könnten. Jedoch haben Menschenmassen und Gruppen oft keine Lust sich zu wandeln. Sie leben so vor sich hin, wie sie es kennen. Was denken sie: Wird das ein Kampf, eine Überzeugungsleistung – oder ist das eine Einsicht, die eigentlich schon da ist und unter dem bisherigen Verhalten schlummert und nur geweckt werden will? Ich meine: Konsumkritik gab es ja schon immer.

Genau – Konsumkritik gab es schon immer. Leute, die dafür warben, dass man nicht so viel oder überhaupt nicht fliegt, dass man Müll trennt, Plastik wiederverwertet. Wir scheinen mir inzwischen einen Schritt weiter. Es gibt ja diese Schülerbewegung ‚Fridays for Future‘, die europaweit für Veränderungen in der Klimapolitik demonstriert. Es scheint immer mehr Menschen unvermeidbar, dass sich etwas ändern muss. Und dass es uns einzelnen Menschen obliegt, zu entscheiden, wen wir an die Macht wählen.

Ich habe jetzt vor einigen Wochen beschlossen, keine Bananen und keine Mangos mehr zu kaufen, weil der Frachtweg zu weit ist. Es gibt andere Obst- und Gemüsesorten, die mehr Kalium als Bananen haben und näher angebaut werden – das kann man für sich ja einmal ausprobieren. Auch kleine Entscheidungen machen einen Unterschied.

In der Zeitschrift ‚National Geografic‘ stand, es ginge ja nicht darum, die Welt zu retten – sondern diese für uns. Es geht um uns selbst. Wenn die Meeresspiegel immer weiter steigen, dann ist es nicht nur für die Küstenstädte, sondern ziemlich schnell für uns alle ein Problem.

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Julia Francesca Meuter: Vom Wert der Dinge

190 Seiten, 94 Fotos

ISBN 978-3-9814732-4-7

EUR 22,00

Foto: privat

Grafik: Julia Francesca Meuter

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Robert Nuslan ging bei ‚Hutkönig‘ ganz diskret in den Ruhestand

25. Februar 2019, Regensburg. Er hat sich leise verabschiedet – aber nun schlägt er doch noch einmal große Wellen, denn die Mittelbayerische Zeitung widmet seinem Abtritt in den Ruhestand eine ganze Seite – es ist von „Abdankung“ die Rede: Robert Nuslan, das Gesicht von ‚Hutkönig am Dom‘, Deutschlands vielleicht bekanntestem Hutfachgeschäft mit angeschlossener Manufaktur, hat mit 62 Jahren die Stafette an seinen zehn Jahre jüngeren Bruder Andreas weitergereicht. 45 Jahre im Familienunternehmen seien genug, befand der Ältere.

Die Nuslans sind schon seit dem Jahr 1875 im Hutwesen unterwegs. Gewachsen als Reparateure von beschädigten Hüten, als diese noch unbedingt „in“ waren – und sich (wie während des 1. Weltkrieges) viele Menschen für das Verlängern des Lebenszyklusses ihrer Hüte entschieden. Erst nach dem Krieg wurde aus ‚Nuslan & Lange‘ die Marke ‚Hutkönig‘: „Vorbild war ein Geschäft in Passau, das sich ‚Hutkönigin‘ nannte. So hat es mir meine Oma erzählt“, erklärt Robert Nuslan – und so konnte man es nun in der Zeitung lesen.

Ältester prominenter Kunde, an den sich Nuslan erinnert, war Luis Trenker (1892 – 1990). Aber insbesondere ein großer Bericht im deutschen ‚Playboy‘ über die Firma und einen neuen Hut aus der Hand von Nuslans Bruder Andreas (der Ausbildungen sowohl zum Hutmacher als auch zum Modistenmeister durchlief) im Jahr 1995 brachte die Regensburger Hüte wieder ins Bewusstsein: Erst kam Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (der Sohn sang bei den berühmten ‚Domspatzen‘), dann die Landesprominenz von Seehofer bis Söder, Ski-Ass Christian Neureuther, aber auch Frauen, wie Alice Schwarzer – Nuslans letztverkaufter ‚Playboy‘-Hut ging an den heutigen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

In der Manufakturen-Szene ist Robert Nuslan gut bekannt. Erst im Jahr 2018 nahm er gemeinsam mit seiner Tochter Bettina für eine knallblaue Version einer ‚Indiana Melusine‘ aus sibirischem Wildhasen-Haar auf dem 10. Zukunftsforum Deutsche Manufakturen die Auszeichnung zum ‚Manufaktur-Produkt des Jahres 2018 – Erkennen von Trends‘ entgegen.

Viele Anwesende bei der Preisverleihung, wie der ehemalige bayerische Landwirtschaftsminister Helmut Brunner (CSU), ließen sich bei der Gelegenheit mit einem der ‚Hutkönig‘-Hüte fotografieren.

Und wie geht es bei ‚Hutkönig‘ mit seinem 14 Mitarbeitern weiter? Andreas Nuslan und seine Lebensgefährtin Melanie Marling haben die Weiterentwicklung des Geschäftshauses am Krauterermarkt angekündigt: „Im März beginnt der große Umbau.“ Im Jahr 2020 soll ein Teil der Produktion an den Innenstadt-Standort verlegt werden – das feine Handwerk muss noch klarer gezeigt werden. Letztenendes auch, damit wir alle besser verstehen, dass ein Hut 82 Arbeitsschritte haben kann und ruhig auch mal 800 Euro kosten darf. Wenn er aus Regensburg von Nuslans kommt.

Manufakturen-Blog: Andreas Nuslan hat von seinem älteren Bruder Robert das Familienunternehmen übernommen (Foto: Hutkönig)

Andreas Nuslan hat von seinem älteren Bruder Robert das Familienunternehmen übernommen (Foto: Hutkönig)

Fotos: Martin Specht, Hutkönig

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Benedikt Poschinger: „Jeder muss zu seiner Zeit das Richtige tun, damit er das Unternehmen erhält“

23. November 2018, Frauenau. „Seit 1568“, sagt Benedikt Freiherr Poschinger von Frauenau, „gibt es die Glashütte in Frauenau.“ Seitdem ist sie im Besitz der Familie von Poschinger. Als die Poschingers mit der Herstellung von eigenem Glas im Bayerischen Wald begannen, waren gerade einmal 76 Jahre vergangen, seit Christoph Kolumbus den amerikanischen Kontinent entdeckt hatte. Im Jahr 1568 floh Maria Stuart aus einem schottischen Gefängnis, die Konquistadoren suchten nach El Dorado, Katharina von Medici versuchte in Frankreich die Hugenottenkriege zu beenden und es sollten noch mehr als 200 Jahre vergehen, bis der Seefahrer James Cook Australien entdeckte. Falls damals in einem der in Frauenau hergestellten Gläser versehentlich eine Luftblase eingeschlossen wurde – dies gilt als Fehler in der Glasherstellung – hätte sie sich in den vergangenen 450 Jahren möglicherweise ein kaum wahrnehmbares Stück bewegt. Glas soll sich im Laufe der Zeit verändern.

Ebenso die Menschen. Seit den Anfängen sind auf den im Jahr 1523 geborenen Joachim Poschinger, der als erster der Familie mit der Glasherstellung begann, 15 Generationen gefolgt. Die Glasmanufaktur in Frauenau befindet sich seit 450 Jahren in Familienbesitz. Damit ist sie die Älteste ihrer Art in Deutschland und weist weltweit die am weitesten zurückreichende Familientradition im Glas auf. Wie, frage ich Benedikt Freiherr Poschinger von Frauenau, geht man mit so einer Tradition um?

„Selbstverständlich ist es eine Verpflichtung“, sagt der 47jährige, der die Glasmanufaktur im Jahr 2007 von seinem Vater übernahm. „Andererseits ist es aber auch ein Ansporn dazu, so wie die Generationen vor mir, das Beste zu geben und die Manufaktur zu bewahren. Jeder muss zu seiner Zeit das Richtige tun, damit er das Unternehmen erhält und an die nächste Generation übergeben kann. Wenn man bedenkt, dass Vorfahren von mir während des Dreißigjährigen Krieges mit dieser Sache beschäftigt waren, kann man sich vorstellen, wie groß diese Herausforderung sein kann.“  Abgesehen von dem erwähnten Dreißigjährigen Krieg überstand die Glasmanufaktur auch zwei Weltkriege, die Industrielle Revolution und ist bislang auch der Globalisierung erfolgreich begegnet.

Manufakturen-Blog: Poschingers Glasmanufaktur in Frauenau (Foto: Martin Specht)

Blick auf Poschingers Glasmanufaktur in Frauenau…

Manufakturen-Blog: In der Ofenhalle mit dem "dreihäfigen" Glasofen (Foto: Martin Specht)

…und in die Ofenhalle mit dem „dreihäfigen“ Glasofen

„Diese Verpflichtung“, betont der Freiherr, „fühle ich zwar, aber auf eine Weise, die mich nicht erdrückt. Das ist, glaube ich, sehr wichtig, weil man sonst erstarrt. In alten Familien wird Tradition und ein gewisses Denken darüber bewusst und auch unbewusst weitergegeben. Die Familiengeschichte ist auf vielerlei Art greifbar, auch in Gemälden oder Gebäuden.“

In solch einem historischen Gebäude befindet sich die Glasmanufaktur „von Poschinger“. In den Büros hängen Jagdtrophäen und Familienportraits. In der Ofenhalle nimmt ein Sammlung historischer Gläser, die dort hergestellt wurden, eine meterhohe Wand ein. Ein großes Holz-Kruzifix fällt ins Auge. Und auch der Raum, in dem wir unser Gespräch führen, sieht aus, als wäre er Bestandteil eines Museums. Möbel und Gemälde aus dem 17. beziehungsweise 18. Jahrhundert, dunkles Holz und eine Vielzahl von Ordnern und Mappen.

„Trotz der langen Tradition“, fährt der Freiherr fort, „hat unser Vater meinem Bruder und mir immer freie Wahl darin gelassen, was wir machen möchten.“ Benedikt Freiherr von Poschinger hat Forstwirtschaft studiert, bevor er die Leitung der Glasmanufaktur übernahm.

„Ich kenne Beispiele aus anderen Familien, wo den Kindern schon früh gesagt wird: ‚Denk daran, du bist einmal derjenige, der das alles übernehmen muss!‘ Ich denke, wenn so etwas zur falschen Zeit in der Entwicklung geschieht, besteht die Gefahr, dass die Nachkommen dann gerade etwas anderes machen, als das, was die Eltern sich vorstellen.“

Allerdings, auch diesen Aspekt berührt das Gespräch, ist die Möglichkeit einer freien Berufswahl eine relativ moderne Entwicklung.

„Früher gab es die klassischen Laufbahnen der Söhne“, erläutert Benedikt von Poschinger. „Wenn es mehrere waren, dann hat einer den Betrieb übernommen, einer ging zum Militär und einer ins Kloster oder wurde Priester.“ Und nach einem Moment des Nachdenkens fügt er an: „Heute ist es Gott sei Dank so, dass sich jeder verwirklichen kann. Aber auch das kann eine gewisse Gefahr bergen.“

Benedikt Poschinger ist sich der Tatsache bewusst, dass er zwar einerseits Bestandteil einer überaus langen Tradition ist, andererseits jedoch einen Betrieb mit etwa 30 Angestellten in einer modernen und globalisierten Welt führt. Seine Schlussfolgerung: „Man muss den Blick frei haben und auch in einem traditionsreichen Unternehmen modern denken.“

Dass gerade im Bayerischen Wald vor einigen Hundert Jahren eine Vielzahl von Glashütten entstand, hat sowohl geographische, wie auch geologische Gründe. Zur Glasherstellung benötigt man Quarzsand, der sich bei einer Temperatur von circa 1.400 Grad Celsius zu Glas schmelzen lässt. Um die Öfen für diesen Schmelzprozess heizen zu können, war das Vorhandensein von Holz in ausreichendem Maße nötig. Beides fand sich im Bayerischen Wald.

„Heute würde man sagen: es gab hier einen Standortfaktor“, so Freiherr Poschinger. „Der Bayerische Wald ist ein Granit-Gneis-Gebirge, in dem Quarz in großen Mengen vorkommt. Und Holz ebenso. So, wie die Porzellan-Hersteller dort sind, wo Kaolin natürlich vorkommt, oder die Eisenhütten dort sind, wo es Kohle gibt, sind die Glashersteller hier zuhause. Das war früher nicht anders möglich. Man konnte im Bayerischen Wald auch hervorragend die Wasserkraft nutzen. Bäche und Flüsse, die die Mühlräder, die Schleifsteine und Schleifereien angetrieben haben.“

Damals wie heute werden Kanten und Grate der Gläser nach dem Erkalten abgeschliffen. Während Benedikt Poschinger spricht, sind in der Ofenhalle hinter ihm die Glasbläser am Werk und balancieren geschickt rotglühende Klumpen an langen Blasrohren. Wenn sie das Glas zum Abkühlen in einen der Wasserbehälter tauchen, steigen weiße Dampfwolken in die historische hölzerne Dachkonstruktion empor. Mit einer Ausnahme, sagt der Freiherr, sei alles, was man zur Glasherstellung benötigte, im Bayerischen Wald zu finden gewesen. Das, was fehlte, war Kalk. Die Zugabe von Kalk während des Schmelzprozesses sorgt dafür, dass das entstehende Glas besser aushärtet. Er musste aus der Ulmer Gegend in die Glashütten des Bayerischen Wald gebracht werden.

„Es waren die Landesherren“, sagt Benedikt Poschinger, „die das Glashandwerk im Bayerischen Wald speziell gefördert haben. Das hatte einen einfachen Grund: Nur aus der Holzwirtschaft [vor Beginn der Glasherstellung der dominierende wirtschaftliche Faktor in der Region] waren keine großen Steuereinnahmen zu erwarten. Darum haben die Landesherren Anreize geschaffen, damit sich Menschen ansiedeln und Glashütten betreiben.“ Poschinger lacht. „Heute würde man sagen: Das war Strukturpolitik.“

Seit ihren Anfängen hängt die Glasherstellung im Bayerischen Wald mit der Land- und Forstwirtschaft zusammen. Heute hat die Familie von Poschinger den größten Waldbesitz in Niederbayern.

„Diese Konstellation“, so der Freiherr, „musste bestehen, weil man das Holz zum Heizen der Öfen brauchte. Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Manufaktur, das gehörte zusammen. Glas machen ohne Wald ging nicht. So waren die frühen Glashütten damals auch analog zum Landwirtschaftsgut sogenannte ‚Glashüttengüter‘. Man kann sich diese Glashüttengüter als weitgehend autarke ‚Siedlungs-Inseln‘ im Wald vorstellen. Zum Transport der Waren verwendete man Ochsenkarren; die Zugtiere und die Ernährung der Menschen machten den landwirtschaftlichen Faktor aus.“

Manufakturen-Blog: Klassisches Drehen und Blasen - mit viel Geschick und Erfahrung entstehen perfekte Formen (Foto: Martin Specht)

Klassisches Drehen und Blasen – mit viel Geschick und Erfahrung entstehen perfekte Formen…


Manufakturen-Blog: Herstellung einer historischen Schlegelflasche in der Glasmanufaktur von Poschinger (Foto: Martin Specht)

…die immer wieder nacherhitzt werden müssen – wie hier bei der Herstellung einer historischen Schlegelflasche


Manufakturen-Blog: Ein Mitarbeiter trägt einen großen gläsernen Tischfuß zum Schleifen (Foto: Martin Specht)

Ein Mitarbeiter trägt einen großen gläsernen Tischfuß zum Schleifen

Zur damaligen Zeit war die Donau die nächstgelegene große Verkehrsader, zu der die kostbaren Gläser transportiert wurden, um über den Fluss weiter verschifft zu werden.

Im 18. Jahrhundert tauchte der „eiserne Moa“ im Bayerischen Wald auf: Als „eisernen Mann“ bezeichneten die Menschen in der Region die ersten Maschinen, die Handarbeit durch maschinelle Fertigung ersetzten. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren die meisten Gläser und Glaserzeugnisse in Europa mundgeblasen. Das änderte sich mit dem Fortschreiten der Industrialisierung. Und zum ersten Mal in der Geschichte waren die Glashütten nicht mehr an einen  Standort gebunden. Rohstoffe und Produkte konnten dank Eisenbahn und – etwas später den Automobilen – beinahe überall hin transportiert werden. Um dieser veränderten Marktlage zu begegnen, mussten die Glashütten mehr bieten, als reine Gebrauchsgläser.

„Früher stellten wir hauptsächlich einfache Trink- oder Vorratsgläser her“, sagt Freiherr Poschinger. „Aber im Zuge der Industrialisierung tauchten auch Kunstströmungen, wie der Jugendstil, in der Gestaltung unserer Glaserzeugnisse auf. Heute würde man Produktdesign dazu sagen.“

Einer der bekanntesten unter den Gestaltern, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Glasmanufaktur von Poschinger zusammenarbeiteten, war der 1868 geborene Peter Behrens. Zum Beispiel der Schriftzug „Dem deutschen Volke“, der über dem Portal des Berliner Reichstagsgebäudes prangt, entstand unter seiner Mitwirkung. Behrens – der auf den Gebieten des Typhographie, Architektur und Produktgestaltung tätig war – war einer der Vorläufer des modernen Industrie-und Corporate-Designs. Ein von ihm gestaltetes Trinkglas wird heute immer noch unter der Bezeichnung „Peter-Behrens-Glas“ in der Glasmanufaktur von Poschinger hergestellt.

Auch heute arbeitet Benedikt Poschinger mit Künstlern und Designern zusammen. „Es ist spannend, Design und Handwerk zusammenzuführen“, sagt der Freiherr. „Glas ist ein ganz besonderer Werkstoff, der – könnte man sagen – seinen eigenen Kopf hat. Eine mit einem CAD-Programm erstellte Zeichnung, bei der es um Winkel mit einem Zehntel Grad geht, das ist vielleicht in einem metallverarbeitenden Betrieb machbar, aber nicht mit mundgeblasenem Glas. Wenn man aber dann mit dem Designer gemeinsam die Grenzen des Machbaren auslotet, entstehen dabei faszinierende Lösungen. So ist zum Beispiel der Tisch von Sebastian Herkner entstanden.“

Der Bell Table hat einen glockenförmigen Fuß von Poschinger aus farbigem Glas und wird von der Firma ClassiCon vertrieben.

Jedoch konnten sich längst nicht alle Glashütten, die es im Bayerischen Wald gab, mit besonderem Design und einem veränderten Angebot behaupten. Betriebe, die die Industrialisierung gemeistert hatten, mussten in den 1990er Jahren den Herausforderungen der Globalisierung begegnen.

„Vor der Automatisierung“, so Benedikt Poschinger, „wurden selbst Glühbirnen mundgeblasen. Heute entstehen in einer Hightech-Fabrik durch Press-Blas-Verfahren um die 15.000 Gläser pro Stunde. Wir schaffen gerade einmal 30. Die industrielle Massenfertigung hat zu einem Rückgang an Arbeitsplätzen geführt. Dadurch drohen natürlich auch spezielle handwerkliche Fähigkeiten auszusterben.“ Nach einem Moment des Nachdenkens fügt er fügt an: „Ein weiterer ‚Schlag‘ für die Glashütten war die Öffnung des Markts für osteuropäische Waren. Auf einmal drängten Glashütten aus Polen, Weißrussland oder Rumänien auf den Markt.“

Zusätzlich dazu, erklärt Poschinger, hätten sich bei vielen Menschen in Deutschland die Tischsitten dahingehend verändert, dass Gläser häufig zu einer Trendware werden, die nach einer Saison durch Neue ersetzt wird. Darum dürfen sie nicht viel kosten und stammen oft aus dem billigen Sortiment großer Möbelhäuser. „Zum Glück“, so Benedikt Poschinger, „gibt es aber auch wieder mehr Menschen, die Wert auf etwas Beständiges legen.“

Die Frage, wie viele Glashütten heute noch in der Region existieren, ist schnell beantwortet:

„Außer der Glasmanufaktur von Poschinger gibt es in Frauenau noch eine Glashütte und bei Zwiesel die Firma Theresienthal, sowie die große maschinell betriebene Hütte Zwiesel-Kristallglas, ehemals Schott.“

Die Glashütte Theresienthal war bis in die 1970er Jahre ebenfalls im Besitz der Familie von Poschinger. „Unser Familie ist verzweigt“, erzählt der Freiherr. „Nach Theresienthal wurde eingeheiratet. Der Kompagnon des letzten Poschinger, der dort saß, hat die Hütte verkauft. Dann ging sie zweimal in die Insolvenz. Heute wird sie als Kapitalgesellschaft geführt.“

Wäre es für die Familie von Poschinger eine Option gewesen, die zum Verkauf stehende Glashütte zu erwerben? „Nein,“ sagt Benedikt Poschinger, „eine Glashütte reicht.“

Es gibt keinen besseren Ort um ein Gespräch über Tradition und Geschichte der Glasmanufaktur von Poschinger zu führen, als den Raum der „das Gedächtnis der Hütte“ genannt wird. Hier sind die Entwürfe und Zeichnungen aus mehreren hundert Jahren archiviert. „Wenn ein Kunde käme, und nach etwas Altem fragte“, so der Freiherr, „würde er es hier finden. Nicht die Form selber, in der das Glas geformt wird, denn diese Formen sind aus Holz und gehen irgendwann einmal kaputt. Aber die Schnitte und technischen Formzeichnungen sind in Zeichenbüchern und Ordnern archiviert. Und für manchen Designer ist dieses Durchblättern durch die Jahrzehnte eine Inspiration.  Manchmal holt man eine Form hervor, die plötzlich wieder sehr aktuell ist. Diese Dinge sterben nie.“

Durch die Fenster des „Gedächtnisses“ fällt der Blick auf die große Ofenanlage und die Glasbläser darum herum. Auch ihre Vorgänger – wenn auch nicht in familiärer, so doch in handwerklicher Tradition – waren bereits vor 450 Jahren an diesem Ort mit der Herstellung von Glas beschäftigt.

Manufakturen-Blog: Poschinger fertigt auch historische Karaffen und Glasgegenstände nach (Foto: Martin Specht)

Poschinger fertigt auch historische Karaffen und Glasgegenstände nach

Fotos: Martin Specht

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Lennart Palkovits von Böker ist 2018 bester Ausbildungsabsolvent bei den deutschen Zerspanern

21. November 2018, Solingen. Die Solinger Messerschmiede Böker hat den besten deutschen Zerspaner-Azubi 2018 ausgebildet: Lennart Palkovits hat von den 403 bundesweit angetretenen Teilnehmern zum Ausbildungsabschluss zur ‚Fachkraft für Metalltechnik, Fachrichtung Zerspanungstechnik‘ als Bester abgeschlossen. Jetzt folgt der Promireigen: Urkunde aus den Händen von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, im Dezember trifft er den Bundespräsidenten. Das wirklich Besondere ist aber: Palkovits ist ein Einser-Abiturient, hätte auch Arzt werden können – aber er interessiert sich für Taschenmesser.

Menschen haben unterschiedliche Hobbys – bei Lennart Palkovits ist es das Taschenmesser. Schon früh entwarf er eigene Klingenformen. Ein Onkel schenkte ihm einen Messerschärf-Kurs bei der renommierten Messermanufaktur Böker Baumwerk.

Dem jugendlichen Fan gefiel der Tag in der Manufaktur so gut, dass er seine Pläne für die Zeit nach dem Abitur im heimatlichen Marl änderte und sich bei dem Familienunternehmen bewarb. Enthusiasten werden immer gesucht – Böker nahm ihn in die Lehre, Palkovits zog nach Solingen.

Inzwischen hat er seine Arbeit in Bökers Handpließterei aufgenommen, dort, wo Klingen und Griffe nach dem Schleifen veredelt und perfekt aufeinander angepasst werden. Sein nächstes Ziel ist die Meisterausbildung, die Böker ihm natürlich hausintern ermöglicht. Auch in die Produktentwicklung darf er sich schon einbringen – die „Faszination Manufaktur“ findet also auch für Arbeitnehmer statt.

Übrigens ist Palkovits kein Einzelfall: Im aktuellen ersten Lehrjahr sind vier der zehn Auszubildenden Abiturienten. Fachkräftemangel und Nachwuchssorgen fallen bei Böker einstweilen aus.

Foto: Böker Baumwerk

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