Yenidze – von der Tabakwarenmanufaktur zum höchsten Biergarten Dresdens

8. Juli 2023, Dresden. Manchmal bleiben Manufakturen Wahrzeichen über ihre eigene Endlichkeit hinaus. Dies gilt auch für die Dresdner Tabakwarenmanufaktur ‚Yenidze‘, die seit dem Jahr 1909 mit ihrem spektakulären Bau in Anlehnung an die Architektur der Grabmoschee eines reichen Ägypters namens Khair Bak in Kairo direkt an die westliche Innenstadt Dresdens anschließt. Im Zweiten Weltkrieg von den Bomben der Alliierten stark beschädigt, wurden die zerstörten Teile zu DDR-Zeiten wieder aufgebaut und in den 1990er Jahren grundsaniert; die ‚Yenidze‘ gilt heute als eines der markantesten historischen Bauwerke Dresdens neben Frauenkirche, Zwinger und Semper-Oper. Die Dachterrasse des zweietagigen Restaurants unter der markanten Glaskuppel, in der im Winterhalbjahr ein Theater arbeitet, wird als „Dresdens höchster Biergarten“ vermarktet.

Tabakwaren waren prädestiniert für die Produktionsform der Manufaktur: Zunächst entstanden im 16. Jahrhundert die Glashersteller im Bayerischen Wald, dann im 17. Jahrhundert die Stoffhersteller mit ihrer konzentrierten Leinenproduktion in Schlesien, dann die Porzellanmanufakturen in Meißen, Fürstenberg und Berlin, schließlich eben auch die Tabakwaren-Branche, die sich handgedreht in immer größeren Firmen zusammenfand. Die ‚Orientalische Tabak- und Cigarettenfabrik Yenidze‘, gegründet im Jahr 1886 von einem Unternehmer namens Hugo Zietz, ist ein beeindruckendes Beispiel dafür: Zietz hatte Zugang gewonnen in die Tabakregion von Yenice (heute: Genisea in Griechenland) im Norden des Osmanischen Reichs, in der ein sehr interessanter und beliebter Tabak angebaut wurde. Zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Reich des Kalifen bestanden vielfältige Handelsbeziehungen und so benannte Zietz seine Firma nach der Region.

Weil die Geschäfte sehr gut liefen, kaufte Zietz im Jahr 1907 ein scheinbar wenig attraktives Grundstück zwischen der Bahnlinie Berlin-Prag und befahrenen Straßen in der westlich an die pompös-barocke Innenstadt anschließende Friedrichstadt (benannt nach Friedrich August II. – Sohn von August dem Starken) im ehemaligen Ostra-Vorwerk (zur Versorgung des Fürsten- und Königshofes) gelegen. Für dieses gab er bei Architekt Martin Hammitzsch ein pikantes Industriebauwerk in Auftrag – eine Produktion, die auf keinen Fall aussehen durfte, wie eine Produktion; denn solche Gewerbebauten waren damals rund um die Innenstadt verboten – sie sollten die Stadtsilhouette aus Elbpromenade und königlichen Prunkbauten auf keinen Fall beeinträchtigen. Aber was war mit religiösen Gebäudetypen? Hammitzsch entwarf die bekannte Manufaktur als Moschee – gleichzeitig großes Marketing für schein-orientalische handgedrehte Zigaretten aus Dresden. Der Schornstein sah aus wie ein Minarett, die große Glaskuppel verbarg Sozialräume für die Mitarbeiter. In den ersten beiden Obergeschossen wurden die wertvollen handgedrehten Zigaretten und Zigarillos gefertigt, darüber einfachere Maschinenware. An die Fassade ließ Zietz eine große Begrüßung aller Bahnvorbeireisenden hängen: „Salem aleikum“.

Die Aufregung und Empörung war in Dresden groß – was hatte die örtliche Baubehörde dort bloß genehmigt? Hammitzsch wurde auf Forderung aus Sachsen aus der Reichsarchitektenkammer ausgeschlossen – aber das Yenidze-Projekt machte ihn berühmt.

Allmählich legte sich die Aufregung, Postkarten mit dem markanten Bauwerk erschienen und gingen in alle Welt. Der Hamburger Reemtsma-Zigarettenkonzern wurde auf Zietz aufmerksam und erwarb 38 Jahre nach Zietz‘ Gründung das Unternehmen samt ‚Tabakmoschee‘.

Im Jahr 1953 erfolgte die Enteignung und Umfirmierung hin zum Volkseigenen Betrieb ‚Importtabak‘ und dann zum VEB ‚Tabakkontor‘, der mit den in der Yenidze zwischengelagerten Tabaken alle Zigarettenfabriken der DDR belieferte, die daraus die Marken-Zigaretten ‚Cabinet‘, ‚F6‘ und ‚Karo‘ herstellten.

Ab 1990 übernahm die Treuhand, verkaufte das Gebäude zügig an einen Immobilienentwickler, der den Komplex mit mehr als 9000 Quadratmetern Fläche zu Büros, dem Restaurant, dem Theater und einer Diskothek umbaute. Heute gehört das Gebäude einem israelischen Geschäftsmann, der es konzeptionell genau so weiterbetreibt.

Was bleibt? Das spektakuläre Gebäude gehört zu den meistfotografierten in Dresden, da es fußläufig am Rande des Stadtzentrums direkt an Landtag und Elbe liegt – und es ist wirklich kaum zu übersehen. Von der deutschen Tabakwaren-Produktion ist nur noch wenig übrig. Ach ja, weil: „Rauchen schadet Ihrer Gesundheit“, stimmt.

Manufakturen-Blog: "Dresdens höchster Biergarten" - oben auf dem Dach der früheren Tabakwaren-Manufaktur Yenidze (Foto: Wigmar Bressel)

„Dresdens höchster Biergarten“ – oben auf dem Dach der früheren Tabakwarenmanufaktur

Fotos: Wigmar Bressel

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Höchster Porzellanmanufaktur wird staatlich – ein guter Weg zur Bewahrung deutschen Know-hows

29. Dezember 2022, Frankfurt am Main. Wie bewahren wir Europäer in Zeiten der Internationalisierung und Globalisierung unsere Identität? Und: Was ist überhaupt ‚europäische Kultur und Identität‘? Fragen, die vielleicht noch deutlicher herausgearbeitet und beantwortet werden müssen, für die wir vielleicht noch tragfähige Antworten entwickeln und an diese glauben müssen… Einfache Beispiele sind das Essen mit ‚Messer und Gabel‘ (die meisten Menschen auf dem Erdball essen mit den Fingern, die zweitmeisten mit Stäbchen). Deshalb ist es eine wirklich gute Nachricht, dass sich die hessische Landesregierung unter Führung der CDU besonnen und es gewagt hat, die zweitälteste deutsche Porzellanmanufaktur – die Höchster, seit 1746, am Frankfurter Stadtrand gelegen – zu übernehmen. Die Hochschule für Gestaltung Offenbach bekommt einen Lehrstuhl für Porzellan, ein Institut für Materialforschung – und die Porzellanmanufaktur wird dafür die Lehrwerkstatt.

Die Höchster Porzellanmanufaktur hat eine bewegte Geschichte hinter sich, war schon mehrfach in Insolvenz, vom Markt verschwunden – aber wurde immer wieder zum Leben erweckt. Im Jahr 1746 – richtig: nur Meissen ist älter (1710) und auch die niedersächsische Porzellanmanufaktur Fürstenberg (1747) wurde mithilfe von abgeworbenen Mitarbeitern aus Höchst gegründet, deren Wissen dann wiederum Starthilfe für Royal Copenhagen (1775) leistete – mit Genehmigung des Mainzer Kurfürsten (Höchst gehörte noch zu Mainz) Johann Carl von Ostein gegründet wurde. Zur Jahrhundertwende war schon wieder Schluss – die Franzosen belagerten Mainz im Jahr 1797 und schnitten den Auftraggeber von seiner Manufaktur ab. Erst im Jahr 1927 gab es Wiederbelebungsbemühungen durch die Stadt Höchst, ab dem Jahr 1947 dann die tatsächliche Neugründung (Deutschland lag nach dem Krieg in Schutt und Asche und viel Porzellan war nicht nur zerschlagen, sondern auch zerbombt). In den 2000ern dann zwei Insolvenzen, zuletzt in diesem Sommer unter dem Hongkong-Chinesen Yung Wen Chung.

Manufakturen-Blog: Witzig, anders, experimentell - Höchst (Foto: Höchster Porzellanmanufaktur)

Witzig, anders, experimentell – Vasen von Höchst

Das Hauptproblem sind die derzeit extremen Energiekosten, die ein wirtschaftliches Produzieren durch die verfehlte deutsche Energie-Politik (desaströse Abhängigkeit von Russland) extrem schwierig machen, heißt es.

Höchst hatte natürlich auch ein Problem, seinen Platz in der Porzellan-Design-Geschichte wiederzufinden. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hatte sich das kleine Unternehmen mit nur etwa zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf Sonderanfertigungen und Spezialprojekte konzentriert (also: nicht noch ein Barock-Essteller); dieser Entwicklung hätte mehr Respekt gezollt werden sollen.

Die hessische Landesregierung hatte sich schon unter Volker Bouffier für Höchst engagiert – aber sich nicht richtig getraut, sich das Projekt ans Bein zu binden. Nun also dieser sehr vernünftige und beherzte Schritt unter Führung von Ministerpräsident Boris Rhein – Hessen bleibt Porzellan-Land und das Wissen um das „weiße Gold“ auch dort erhalten. Sehr gut!

Fotos: Höchster Porzellanmanufaktur

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Sie sollte den „guten Geschmack des deutschen Volkes“ fördern – des Kaisers Majolika-Manufaktur Cadinen

17. Dezember 2022, Lüneburg. Welch ein Projekt! Wenn der Kaiser höchstpersönlich „auf die Ausbildung guten Geschmacks im deutschen Volke einwirken“ wollte – dann war Großes, wenn nicht gar Kulturell-Revolutionäres, in Vorbereitung. Der vielschichtige, schillernde, ganz sicher exzentrische, bisweilen unverständliche Wilhelm der II. (1859 – 1941) hatte im ostpreußischen Cadinen bei Elbing mit Blick aufs Haff im Jahr 1898 ein verschuldetes historisches Gut aus Ritterordenszeit als Sommer-Option erworben; dort wurden Pferde gezüchtet – und Ziegel gebrannt, aus denen man den ganzen Ort (heute Kadyny, 500 Einwohner) am Erbauen war. Die feinen Waren aus der von seinem Vorfahren, dem berühmten Friedrich dem Großen, entwickelten Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) in Berlin für die königlichen Schlösser und Besitzungen, waren teuer. Da kam die wiederaufkommende Begeisterung für Ton und Fayence gerade recht: Der Cadiner Ton war gut und hielt den angeordneten Beprobungen stand. So startete das Projekt ‚Künstlerische Volksbildung‘. Auf die Geschichte bin ich im sehr besuchenswerten Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg gestoßen.

‚Majolika‘ – ein aus ursprünglich von Mallorca („mallorcinisch“ – daher der Name) unter maurischer Entwicklung am Beginn der Neuzeit auf den europäischen Kontinent über Italien eingesickertes Verfahren, bei dem auf roten Ton Zinnglasuren in kräftigen Farben aufgebrannt werden. Der große Vorteil: Ton ist ein Naturprodukt, wird in Tongruben abgebaut, wird getöpfert und ist unkompliziert zu brennen. Anders als die Zutaten für Porzellan, die gereinigt und als Masse konfiguriert werden, kann man mit dem Naturmaterial Ton einfach loslegen. Wenn man dann ein Verfahren entwickelt, wie man ähnliche Malereien, wie auf dem feinen Porzellan, auftragen kann, dann ist Majolika eine Art günstigeres Porzellan – also geeignet für sehr viel größere Bevölkerungsschichten, die ja eh mit Tongefäßen seit vielen Jahrtausenden vertraut sind.

Im Jahr 1902 startete die Majolika-Manufaktur. Haken an der Sache: Wilhelm der II. glaubte an die Neuauflage der Kunst der Antike bis maximal zum 18. Jahrhundert – Historismus eben. Nur in wenigen Fällen wurde in Cadinen zeitgenössische Kunst produziert. Es kam die Katastrophe des 1. Weltkriegs – Wilhelm dankte ab und reiste ins niederländische Exil ab. Aber was ihm und seiner Familie der Hohenzollern blieb, waren ja die riesigen Besitzungen im Deutschen Reich. Allerdings ließen sich diese jetzt von ihnen nicht mehr mit selbsterteilten Staatsaufträgen subventionieren. Stattdessen mussten sich die Besitzungen ab sofort rechnen und Geld auf dem Markt verdienen. Für Cadinen gilt dies als Glücksfall: Nun war echter Volksgeschmack gefragt – und statt der Antike und der Rocaille des lange vergangenen Rokoko, waren jetzt Tierskulpturen angesagt, deren Beliebtheit dazu führte, dass bei Flucht und Vertreibung Einzelteile gerettet, aber auch aus vielen Ecken der heutigen Bundesrepublik Cadiner Majolika an das spätere Museum abgegeben wurden.

Manufakturen-Blog: Eher untypisch - ein Madonnen-Relief (Maria mit dem Kind) aus Cadinen. (Foto: Wigmar Bressel)

Eher untypisch – ein Madonnen-Relief (Maria mit dem Kind) aus Cadinen (um 1905). Wilhelm der II. war ja evangelisch – und Maria spielt vor allem in der römisch-katholischen Kirche eine Rolle („Marienverehrung“). Maria ist ja nach Adam (wurde im christlichen Glauben von Gott erschaffen), Eva (wurde in diesem Glauben von Gott aufgrund Adams Klage über Einsamkeit aus einer seiner Rippen geschaffen) erst als dritter Mensch an einer Art Menscherschaffung ohne Zeugungsakt (bei ihr: durch den sog. ‚Heiligen Geist‘ ohne ‚befleckte Empfängnis‘) beteiligt. Jesus wurde erst auf dem Konzil von Nicäa (im Jahr 325) einheitlich als Teil der Trinität aus Gott – Heiligem Geist und eben ihm – festgelegt; und ist seitdem eben nicht mehr Teil der Schöpfung.

Manufakturen-Blog: Elch - Keramik um 1935 von Arthur Steiner (1885 - 1960) (Foto: Wigmar Bressel)

Elch – Keramik um 1935 von Arthur Steiner (1885 – 1960)

Manufakturen-Blog: 'Mädchenkopf mit Lilie' von Ludwig Manzel - einem Berliner Lieblingskünstler von Wilhelm II. Der durfte sogar Jugendstil... (Foto: Wigmar Bressel)

‚Mädchenkopf mit Lilie‘ (zwischen 1905 und 1910) von Ludwig Manzel – einem Berliner Lieblingskünstler von Wilhelm II. Der durfte sogar Jugendstil…

Manufakturen-Blog: Wilhelm der II., wie er heute noch in der Lobby-Tagesbar des Hotel Atlantic in Hamburg als Kachel-Bild aus seiner eigenen Manufaktur hängt - seit dem Jahr 1909. (Foto: Wigmar Bressel)

Wilhelm der II., wie er heute noch in der Lobby-Tagesbar des Hotel Atlantic in Hamburg als Kachel-Bild aus seiner eigenen Manufaktur hängt – seit dem Jahr 1909.

Als die Rote Armee einmarschierte und Cadinen später polnisch wurde, wurde die Majolika-Manufaktur eingestellt; Verwalter Prinz Louis Ferdinand trat die Flucht über das zugefrorene Haff an. Ein amerikanischer Erwerber des Gutes nach der Wende schlachtete die Gebäude nach kaiserlichen Hinterlassenschaften aus, heißt es, ein britischer Investor ging mit einem Hotel im Schlösschen pleite. Ein neuer Versuch unter polnischer Führung läuft. Auch das Gestüt soll weiterbetrieben werden. Ich war im Jahr 2000 einmal dort – aber da war alles noch in Unordnung.

Was man aber aus Cadinen heute noch bestellen kann, das sind die kaiserlichen Ziegel. Wilhelm der II. hatte auch die Ziegelei weiterbetrieben, modernisiert und ausgebaut. Diese sind also verfügbar. Außerhalb des Landesmuseums hängt ein großes Kachel-Bild aus Cadiner Majolika im Foyer des Hamburger Hotels ‚Atlantic‘ (das, in dem Udo Lindenberg lebt) – mit seiner Majestät darauf; ein anderes Beispiel sind die Fliesen des Alten Elbtunnels – auch Cadiner Majolika.

Fazit: Volksgeschmacksbildung schiefgegangen – Erinnerung und vielleicht Kultstatus erreicht; Cadiner Originale kosten auf eBAY soviel, wie das eigentlich viel teurere KPM-Porzellan.

Fotos/Repro: Wigmar Bressel (im Ostpreußischen Landesmuseum bzw. im Hotel Atlantic)

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Dornburger Schlösser – dort begann die moderne Manufaktur-Keramik

13. November 2022, Dornburg. Vor drei Jahren hörte ich in der ‚Klappholttal – Akademie am Meer‘ auf Sylt während eines Urlaubsaufenthalts den Vortrag des bedeutenden deutschen Architekturkritikers Dankwart Guratzsch (‚Die Welt‘) zu ‚100 Jahre Bauhaus‘. Guratzsch verblüffte die Gäste mit einem Eröffnungsbild: Dies zeigte keineswegs die berühmten Schuhkartons aus Dessau in Glas und Weiß – sondern ein den Meisten unbekanntes Gebäude; natürlich das des ersten ‚Bauhauses‘ aus Weimar, des von Henry van de Velde entworfenen und errichteten Ateliergebäudes (1904 – 1911) der ‚Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule Weimar‘, die durch ihre Fusion im Jahr 1919 mit Walter Gropius‘ ‚Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar‘ sich zum ‚Bauhaus‘ wandelte: Kunstgewerbe und Kunst vereint. Eine Idee, die dreizehn Jahre hielt – dann wurde das Bauhaus – über Dessau nach Berlin immer weiterverzogen – von den Nationalsozialisten verboten.

Noch weniger ‚form follows function‘ (ein berühmter Spruch des 3. Bauhaus-Direktors Ludwig Mies van der Rohe im US-amerikanischen Exil), als die Gebäude in Weimar, bietet das liebliche Gebäude der ersten Keramikwerkstatt (1920 – 1925) des Bauhauses: der Marstall der Schlösser in Dornburg. In dieser Orgie aus Rosa und Cremegelb, durch Gärten mit den drei Schlössern verbunden – darunter genau gegenüber dem Eingang das Jagd- und Lustschloss – steckten die Wurzeln der späteren ‚Neuen Sachlichkeit‘ und die Basis unserer heutigen Keramik von KPM-Porzellan bis Hedwig Bollhagen, teilweise auch Meissen und Schwarzburger Werkstätten. Der erste Leiter der Keramikwerkstatt wurde der Berliner Gerhard Marcks (1889 – 1981); dieser ist heute vor 41 Jahren gestorben.

Marcks ist in der Manufakturen-Branche kein Unbekannter: Er lieferte Skulpturen-Entwürfe für die Porzellanmanufaktur Meissen, die Schwarzburger Werkstätten für Porzellankunst und die Steingutfabrik Vordamm. Seine „andersartigen“ Entwürfe – er selbst hatte keine keramische Ausbildung und verstand sich überhaupt als Bildhauer – reichten Gropius, um ihn für Dornburg anzuheuern. Marcks soll den Studierenden Gestaltung beibringen. Mit dem lokalansässigen Töpfermeister Max Krehan (1875 – 1925) wird Marcks ein versierter Techniker als ‚Werkmeister‘ zur Seite gestellt.

Die Keramikwerkstatt war für die Studierenden eine Herausforderung: Im Juli 1920 begannen sie mit dem Umbau des Marstalls in Eigenleistung – Pferdeboxen herausreißen, Wände einbauen, Technik mit Hilfe von zwei lokalen Handwerken installieren. Brennöfen einbauen, sechs Drehscheiben auf einem langen Balken – für den ‚Formmeister‘ Marcks ein eigenes Atelier und ein Wohnhaus in der heutigen Max-Krehan-Straße 2; für die Studierenden sind die bisherigen Gesindekammern über den Werkstätten, jedoch möbliert aus den Schlössern, schließlich war die Monarchie ja gerade untergegangen und der eben noch so großzügige und kunstbegeisterte Großherzog „weg vom Fenster“. Mangels eines eigenen Herdes wurde in einer der Schlossküchen mitgekocht. Die Fertigstellung und offizielle Eröffnung der Keramikwerkstatt wurde am 3. Oktober 1920 gefeiert.

Die Keramikwerkstatt sollte sich übrigens finanziell selbst tragen, ihre eigenen Kosten durch marktgängige Geschirre selbst einspielen… es wurde also beschlossen, sicherheitshalber zweigleisig zu fahren: neues marckssches Design hier – klassische Keramik dort… unter den enthusiastischen jungen Bauhäuslern wurden diese Arbeiten als „Bauerkeramik“ verspottet, was viel über das eigene revolutionäre Selbstverständnis und die Meinung über Marcks‘ Lehre aussagt, aber genauso von der Meinung zum Geschmack der größtenteils ländlichen Kunden erzählt, die von Werkmeister Krehan und seiner bisherigen Töpferei angelockt sind.

Nur 16 Studenten absolvieren in den fünf Jahren die Keramikwerkstatt – für die Manufakturen-Branche wird Marguerite Friedlaender (1896 – 1985) die wichtigste, denn sie wird später von der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) in Berlin  beauftragt und entwirft berühmtes Geschirr, das heute noch produziert wird. Friedlaender war Dekormalerin in einer Rudolstädter Porzellanmanufaktur – aber das genügte ihr nicht.

Manufakturen-Blog: Das erste Bauhaus - ab dem Jahr 1920 in Weimar (Foto: Wigmar Bressel)

Das erste Bauhaus – ab dem Jahr 1920 in Weimar

Manufakturen-Blog: Gerhard Marcks in seinem Atelier in Berlin-Nikolassee (zwischen 1939 und 1942 - Foto: Archiv der Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen

Gerhard Marcks in seinem Atelier in Berlin-Nikolassee (zwischen 1939 und 1942 – Foto: Archiv der Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen)

Manufakturen-Blog: Formenlager im Museum zur Keramik-Werkstatt (Foto: Wigmar Bressel)

Formenlager im Museum zur Keramik-Werkstatt

Manufakturen-Blog: Dort oben, hoch über der Saale und der Moderne des Bahnhofs trutzend, stehen die drei Schlösser in Reihe - die ersten fünf Jahre Heimstatt für die Bauhaus-Keramik. (Foto: Wigmar Bressel)

Dort oben, hoch über der Saale und der Moderne des Bahnhofs trutzend, stehen die drei Schlösser in Reihe – die ersten fünf Jahre Heimstatt für die Bauhaus-Keramik.

Manufakturen-Blog: Das Jagd- und Lustschloss der Weimarer Herzöge - direkt gegenüber des Eingangs zum Marstall und der Bauhaus-Keramikwerkstatt (Foto: Wigmar Bressel)

Das Jagd- und Lustschloss der Weimarer Herzöge – direkt gegenüber des Eingangs zum Marstall und der Bauhaus-Keramikwerkstatt

Manufakturen-Blog: Glasuren und Färbemittel, wie sie zur Werkstätten-Zeit existierten (Foto: Wigmar Bressel)

Glasuren und Färbemittel, wie sie zur Werkstätten-Zeit existierten

Nach der Gesellenprüfung in der Keramikwerkstatt im Jahr 1922 wechselte sie an die Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle an der Saale, legte dort als erste Frau in Deutschland die Prüfung zur Keramikmeisterin ab, übernahm im Jahr 1929 die Leitung der dort neu eingerichteten Porzellanwerkstatt. Die KPM aus Berlin beauftragte sie mit einem Kaffee-, Mokka- und Teeservice. Am Ende standen fünf Service mit insgesamt 59 Formen – das berühmteste wurde die sogenannte ‚Hallesche Form‘ und die Vasen unter dem Namen ‚Halle‘, die dekoriert von Trude Petri (1906 – 1998, studiert in Hamburg an der ‚Hochschule für bildende Kunst‘, seit 1929 bei der KPM in Berlin angestellt) bis heute erhältlich sind.

Im Jahr 1925 erfolgte die Vertreibung des Bauhauses aus Weimar – und mit ihr die der Keramikwerkstatt. Während Gropius mit seiner Hochschule nach Dessau ging, wechselten sowohl Marcks als auch Friedlaender nach Halle. Marcks wurde dort Professor und machte seinen Weg. Von ihm stammt zum Beispiel die Skulptur der berühmten ‚Bremer Stadtmusikanten‘ am UNESCO-Welterbe Bremer Rathaus, die heute jedes Jahr Millionen Menschen besuchen, darunter auch viele Japaner, die mit Grimms populären Märchen sozialisiert sind. Sein Gesamtwerk wird durch das Gerhard-Marcks-Haus in Bremen erforscht.

In Dornburg widmet sich inzwischen ein kleines Museum im Marstall der Keramik-Werkstatt; man sieht viele Original-Exponate sowie die Einrichtung aus der damaligen Zeit.

Manufakturen-Blog: Marguerite Friedlaender (2. v. r.) im Kreis der Kommilitonen in der Bauhaus-Keramik-Werkstatt in Dornburg (Ausschnitt eines Fotos des Archivs der Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen

Marguerite Friedlaender (2. v. r.) im Kreis der Kommilitonen in der Bauhaus-Keramik-Werkstatt in Dornburg (Ausschnitt eines Fotos des Archivs der Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen)

Manufakturen-Blog: Die kleine Skulptur der 'Bremer Stadtmusikanten' von Gerhard Marcks im Marcks-Haus, wie sie in Groß am Rathaus steht (Foto: Wigmar Bressel)

Die kleine Skulptur der ‚Bremer Stadtmusikanten‘ von Gerhard Marcks im Marcks-Haus, wie sie in Groß am Rathaus steht

Fotos: Wigmar Bressel, Archiv der Gerhard-Marcks-Stiftung (Bremen)

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Die Leinenweberei Seegers & Sohn – vom Aufbruch in die Zukunft

1. November 2022, Steinhude. Eigentlich sollten Manufakturen ‚resilient‘ gegen globale Krisen sein: Sie produzieren vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt, beliefern genauso Händler wie Endverbraucher vorrangig auf regionalen und nationalen Märkten, reparieren die Produkte, die nach Jahren defekt oder beschädigt zurück ins Werk kommen, können meistens noch Ur-Formen aus ihrer Gründungszeit nachfertigen. Sie produzieren ethisch unter Einbeziehung ihrer lokalen Anwohner, den Auflagen der Gewerbeaufsicht und zahlen ortsübliche, dem jeweiligen Landes- oder EU-Recht unterliegende Gehälter. Klar, sie sind nicht gegen Energiepreis-Entwicklungen durch Kriege wie in der Ukraine gefeit und müssen sich auch den Notwendigkeiten steigender Umwelt- und Gesundheitsschutz-Auflagen stellen… Gerade bedrücken die schlechten Nachrichten aus der sächsischen Leinenweberei Hoffmann in Neukirch/Lausitz – da flattert über Instagram die Einladung zu den ‚Tagen der offenen Tür‘ bei Hoffmanns Mitbewerber, der Leinenweberei Seegers & Sohn aus Steinhude am gleichnamigen „Meer“, aufs Smartphone. Eine willkommene Einladung, nachzuschauen, was die älteste deutsche Leinenweberei (gegründet im Jahr 1765) anders macht…

Also Sonntagsausfahrt ans Steinhuder Meer: Die Bleichenstraße herunter, leuchtet schon der riesige Schriftzug ‚Leinenfabrik‘ den Besuchern entgegen. Vor einer abgewaschenen und neuverputzten Spät-Gründerzeit-Industriefassade aus dem Jahr 1912 erwarten uns 50 Außengastronomie-Sitzplätze – rappelvoll, passend zu den 100 Fahrrädern und weiteren 50 Autos, die auf dem Firmenparkplatz stehen. Das Unternehmen gönnt sich einen eigenen Museumsteil (so erreicht man die Sonntagsöffnung und die Touristen: „Frühstück ab 10 Uhr“), in dem auch ein Teil des Cafés untergebracht ist. Dabei ist Seegers kein Museum – sondern ein Produktionsbetrieb, der seine Nische im Markt perfekt bedient: 140 Meter Leinen, Halbleinen und Baumwolle für Handtücher, Bettwäsche, Tischdecken, Servietten, Brotbeutel und und und werden jeden Werktag gewebt. Die Kunden: Berühmte Hotels, die Deutschen Botschaften, das Kanzleramt – aber vor allem unendlich viele Menschen, die mit Tischkultur leben, die auf die halbfesten und durch den Leinenanteil besonders saugstarken Geschirrhandtücher stehen, mit denen sich Gläser so hervorragend polieren lassen… weg ist der Kalkrand aus der Geschirrspülmaschine!

Dann der Werksrundgang durch die Heiligtümer: der Maschinensaal mit den 16 Jacquard-Webstühlen, das Lochkarten-Archiv mit den mehr als 5000 Papier-Lochkarten, über deren Abtastung sich die Webstühle das Muster für den zu webenden Stoff ziehen, die Garnrollen mit ihren bis zu 30 Kilometer langen Fäden, die Näherei mit ihren acht Arbeitsplätzen, Stofflager, Garnlager. Uns führt der 34jährige Weber Sascha Pleger, der seit elf Jahren im Unternehmen arbeitet und heute die Produktion verantwortet. Geduldig erklärt er, wie ein Webstuhl arbeitet, funktioniert, „tickt“. Er erzählt vom tagelangen Umspannen, wenn auf dem Webstuhl ein anderes Muster gewebt werden soll, denn die Stühle verfügen über 3600 bis 9000 Kettfäden – das sind die Längsfäden, durch die der Schussfaden (das ist der mit der Farbe) hindurchgeschossen wird und durch dessen Steuerung (auf und ab) über die Lochkarte das Muster entsteht; jeder Einzelne muss durch den Stuhl gezogen und verknotet werden. Geduld ist gefragt – und man darf nicht durcheinanderkommen… Sind die Webstühle nicht schon zu alt für eine moderne Fertigung? Pleger stellt die Gegenfrage: „Kann ich einen modernen, computergesteuerten Hochleistungswebstuhl selbst reparieren? Diese mechanischen Webstühle kann ich auseinanderbauen und jedes einzelne Bauteil ersetzen – bei den neuen Maschinen muss ich immer auf den Mechaniker warten.“ Und häufig wird es dann ein Programmierer sein, der an die Software heran muss…

Manufakturen-Blog: Im Websaal der Leinenfabrik Seegers & Sohn in Steinhude mit ihren Jacquard-Webstühlen (Foto: Wigmar Bressel)

Im Websaal der Leinenweberei Seegers & Sohn in Steinhude mit ihren Jacquard-Webstühlen

Manufakturen-Blog: Anstehen im rustikalen werkseigenen Café - früher war das ein Teil der Bleichhalle (Foto: Wigmar Bressel)

Anstehen im rustikalen werkseigenen Café – früher war das ein Teil der Bleichhalle

Manufakturen-Blog: ...der Schriftzug 'Leinenfabrik' ist schon von Weitem zu sehen (Foto: Wigmar Bressel)

Seegers‘ Schriftzug ‚Leinenfabrik‘ ist schon von Weitem zu sehen

Manufakturen-Blog: Die Parkplätze rund um den Betrieb sind voll mit Fahrrädern und Autos (Foto: Wigmar Bressel)

Die Parkplätze rund um den Betrieb sind voll mit Fahrrädern und Autos

Manufakturen-Blog: Beim Weben - der Webstuhl fertigt das Muster 'Gregor' (Foto: Wigmar Bressel)

Beim Weben – der Webstuhl fertigt gerade das Muster ‚Gregor‘

Manufakturen-Blog: Im Werksverkauf liegen Tischläufer neben Handtücher, Decken, Bettbezügen, Servietten... (Foto: Wigmar Bressel)

Im Werksverkauf liegen Tischläufer neben Handtüchern, Decken, Bettbezügen, Servietten…

Gehörschutz ist in der Produktion Pflicht. Pleger warnt vor – und schaltet einen Webstuhl ein. Dieser rattert sofort los, erzeugt 108 Dezibel. Für einen Moment geht das. Man sieht zu, wie langsam ein klassisches Muster für Geschirrtücher entsteht und sich auf eine Rolle wickelt. Kleine Reiter aus Blech bewegen sich auf und ab – für jeden Kettfaden einer. Reißt ein Faden, dann merken das auch diese Webstühle schon, und bleiben sofort stehen – denn das war eines der ersten Probleme, die gelöst werden mussten. Das Muster darf keine Unregelmäßigkeiten haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch sieben Leinenwebereien in Steinhude, das bereits im Jahr 1728 das Weber-Zunftrecht verliehen bekam. Das Steinhuder Meer bedeutete gute Wasserversorgung – eine Grundvoraussetzung für den Anbau von Flachs, der vor der Baumwolle das europäische Textil war. „Mein Großvater hat sich in den 1950er Jahren gegen die damals sehr populäre Verarbeitung von Polyester und anderen Kunstfasern entschieden“, erzählt Adrian Seegers, heute geschäftsführender Gesellschafter in neunter Generation, auf der Rückseite der Speisekarte des hauseigenen Cafés; sein Vorfahr, der Weber Johann Dietrich Jacob Seegers, hatte das Unternehmen damals als ‚Leinen- und Tischzeugweberei Seegers‘ gegründet. Jedenfalls führen die Seegers und ihre Mitarbeiter auf diese großväterliche ablehnende Haltung gegenüber Plastiktischdecke & Co. ihr Überleben zurück. Als einziger Weberei in Steinhude. Hotels und Gastronomen sei Dank.

Inzwischen hat sich die Haltung in bestimmten Kreisen geändert: Wer heute in die Gastronomie liefern will, bezieht sein Garn besser aus der EU – denn der Nachweis der Unbedenklichkeit bezüglich Pestiziden muss sein. Seegers & Sohn verwebt nur Oeko-Tex-zertifizierte Garne. Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen sind dem Unternehmen ein Anliegen. Es soll ja alles stimmig sein.

Wenn man durch den Betrieb geleitet wurde, landet man im Werksverkauf in der alten Bleichhalle und auf dem alten Garnboden. Logisch. Wer eben von den Produkten überzeugt wurde, der soll ja auch kaufen können: Geschirrtücher gibt es ab sechs Euro, Reinleinen-Bettwäsche ab 186,00 Euro pro Garnitur. Alles, wenig überraschend, auch in einem tadellos funktionierenden Online-Shop. Man kann nur staunen, wie richtig solch ein kleiner Betrieb (mit 34 Mitarbeitern) dort in Steinhude alles macht!

Fotos: Wigmar Bressel

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Die Leinenweberei Hoffmann muss hoffen

20. Oktober 2022, Neukirch/Lausitz. Aus der Lausitz – da, wo demnächst die letzten Braunkohletagebaue in Badeseen umgewandelt werden, kommen auch schlechte Nachrichten. Dort, wo die europäische Manufakturen-Entwicklung begann, als im 17. Jahrhundert sogenannte ‚Verleger‘ Tuchproduktionen im großen Stil in Auftrag gaben und von Heimarbeitern und Handwerksbetrieben mithilfe der Dampfmaschine eben die ersten Manufakturen gegründet wurden, meldete im Frühsommer ausgerechnet der älteste dort noch existierende Leinen-Weber, die Leinenweberei Hoffmann in Neukirch, Insolvenz an. „Die Aussichten waren schlecht, es drohte die Zahlungsunfähigkeit“, sagt Geschäftsführer Reinhard Ruta, der seit 14 Jahren den Betrieb leitet.

Seit dem Jahr 1905 hatten sich zunächst Karl-Gustav Schulze und Martin Hoffmann, dann nur noch die Hoffmanns, seit dem Jahr 2007 schließlich die Enthusiasten Reinhard Ruta und Sieghard Albert als Altersnachfolger, einen Namen gemacht, seit sechs Jahren nur noch Reinhard Ruta. Die DDR-Zeit hatte die Weberei, nach der Enteignung im Jahr 1971, innerhalb des ‚Volkseigenen Betriebs Wäscheunion‘ unter dem Namen ‚Damastweberei Oberodewitz‘ einigermaßen selbständig und glücklich überstanden – da Hoffmanns nie aus den Büchern und dem Grundbuch gelöscht wurden, erfolgte die Rückgabe durch die Treuhand eher reibungslos und im Jahr 1991 ausgesprochen früh.

Der Neustart in der Alteigentümer-Struktur erfolgte mit einem Paukenschlag: Die damalige Deutsche Bundespost plazierte in Neukirch einen Großauftrag – Postsäcke! Banken folgten, ließen sich die klassischen Münzbeutel fertigen, die so griffig und haltbar zugleich sind.

Aber was Hoffmann natürlich auszeichnet, ist die Vielfalt der Webmöglichkeiten, die in einem einzigen Betrieb mit gerade einmal 17 Beschäftigten vereint sind: historische Schützen-Webmaschinen für Gewebe mit fester Webkante, Jacquard-Webmaschinen für Tischdecken, Servietten etc. sowie elektronisch gesteuerte Webmaschinen für das klassische Halbleinen-Geschirrtuch. Darüberhinaus hat sich das Unternehmen auch darauf spezialisiert, neben den Heimtextilien sogenannte ‚technische Gewebe‘ herzustellen – also Gewebe, die technisch-physische Eigenschaften haben müssen, die von den Auftraggebern benötigt werden. Reinhard Ruta: „Ein Großteil unseres Geschäfts mit sehr treuen Kunden, mit denen wir teilweise schon mehr als 20 Jahre eng zusammenarbeiten.“

Man war bisher auch durchaus innovativ: Toll sind die Frottée-Handtücher aus einem Mix aus 40 % Leinen und 60 % Baumwolle; das ‚Zwei-Zonen-Flex-Tuch‘ zum Rückenrubbeln mit unterschiedlichen Härtegraden ist eine besondere Entwicklung für den Wellnessbereich und wurde beim Wettbewerb zum ‚Manufaktur-Produkt des Jahres 2015‘ ausgezeichnet.

‚Ja – und wo ist jetzt das Problem?‘, möchte man denken.

Da ist das Problem: Zunächst hatte es seit Jahrzehnten geheißen: ‚Bau dein Lager ab – das bindet nur Kapital. Alle Lieferanten liefern doch just in time!‘ Nun – das bezog sich auf den regionalen Flachsanbau (Leinen wird aus der Flachs-Faser gesponnen); der ging jedoch zurück, bis er nahezu verschwand. Also auf einmal: Belgien, Irland, Frankreich, Italien… Ägypten… China… Just in time? „Lieferzeiten und Engpässe!“, grummelt Ruta: „Die Verfügbarkeit von Flachsgarnen auf dem Beschaffungsmarkt ist in den vergangenen zwei bis drei Jahren schwierig geworden. Die Anbieterstruktur hat sich dramatisch verändert, die Anzahl der Garnlieferanten ist geringer geworden, gewünschte Garnqualitäten gibt es zeitweise oder teilweise überhaupt nicht mehr. Wie auch bei vielen anderen Rohstoffen und Zulieferprodukten in anderen Branchen. Darüber hinaus sind massive Preissteigerungen einhergehend mit der Forderung der Lieferanten nach Vorauskasse auch ein Teil der Ursachen für die gesamte Beschaffungsproblematik.“

Bedeutet: Aufträge theoretisch ja, Lieferfähigkeit nein. Farben, die der Kunde seit Jahren für kleine Chargen ordert, – plötzlich nicht mehr aufzutreiben. Immer auf der Suche nach dem passenden Garn – das dafür jedoch europalettenweise zum Preis von bis zu zehntausend Euro.

Ute Czeschka vom Manufakturhaus in Meißen handelt seit vielen Jahren mit Hoffmann-Produkten, wir sprachen vor langer Zeit schon über Hoffmann, sie sagte damals: „Super Qualität, schönes, seltenes, klassisches Design – aber, wie die Produkte von vielen Manufakturen, zunächst mit zu geringer Händler-Marge ausgestattet.“ Ein Problem: Aus Angst vor ausbleibenden Aufträgen und zu geringem Selbstbewusstsein, sorgenvoll auf die Einkaufsgewohnheiten der großen Ketten in China blickend, hat man die eigenen Produkte zu günstig am Markt plaziert; am Ende bleibt für keinen Marktteilnehmer Geld übrig: Händler verdienen zu wenig, die Aufträge kommen nur noch von Spezialisten, der Hersteller verkauft aus Verzweiflung fast alles direkt an den Endverbraucher oder Großkunden – und gerät wegen fehlender Schaufenster in der Gesellschaft in Vergessenheit. Das Problem vergrößert sich und vergrößert sich. Am Ende kennt fast niemand mehr den tollen ‚Oberlausitzer Leinendamast‘.

Dagegen könnte Marketing helfen. Facebook, Instagram, Twitter, Pinterest – wie sie alle heißen. Ein zeitgemäßer Online-Shop bestimmt auch. Reinhard Ruta weiß um die Mängel – in einem Interview sagte er: „Wir haben hervorragende Produktionsfachleute. Was uns aber fehlt, ist geeigneter Nachwuchs. Wir brauchen jüngere Leute, die am Erhalt unseres Handwerks interessiert sind und sich mit heutigen Marketingfragen und digitalen Prozessen auskennen.“ Er weiß um die Mängel – aber er sanierte lieber einen Teil des Produktionshallen-Dachs; auch wichtig, dass es nicht hereinregnet und die Heizung den Oberlausitzer Himmel übermäßig erwärmt.

Der Wirtschaftsingenieur aus dem nordhessischen Kassel kam als glücklicher Kunde: „Ich habe in Berlin eine Hoffmann-Bettwäsche-Garnitur in einem Fachgeschäft gekauft – die hat mich so begeistert!“ Er fragte sich zu Hoffmann durch, besuchte den Hersteller auf einer Messe, dann den Betrieb in Neukirch.

Aus Produkt-Begeisterung wurde Eigentum: „Die Tochter der Familie Hoffmann und ihr Mann brauchten eine Altersnachfolge.“ Ruta inzwischen auch: „Ich bin 64. Ich kann das ja nicht ewig machen.“ Und sein Alter verhinderte ja auch, realistisch betrachtet, ein größeres Bankdarlehen für seinen inhabergeführten Betrieb.

Manufakturen-Blog: Das Bespannen eines mechanischen Webstuhls dauert drei Tage (Foto: Wigmar Bressel)

Das Bespannen einer mechanischen Webmaschine dauert drei Tage

Manufakturen-Blog: Geschäftsführer Reinhard Ruta vor der historischen Stechuhr - sie ist immer noch in Betrieb (Foto: Wigmar Bressel)

Geschäftsführer Reinhard Ruta an der historischen Stechuhr – sie ist immer noch in Betrieb

Manufakturen-Blog: Eingang zum Werksverkauf an der Zittauer Straße (Foto: Wigmar Bressel)

Eingang zum Werksverkauf an der Zittauer Straße

Manufakturen-Blog: Die Größe der Produktionsgebäude wird erst klar, wenn man das Gelände umschreitet (Foto: Wigmar Bressel)

Die Größe der Produktionsgebäude wird erst klar, wenn man das Gelände umschreitet

Manufakturen-Blog: Mechanisches Zusammenlegen der langen Stoffbahnen für den Transport zum 'Veredeler' - zum Waschen und Bügeln und Vorbereiten für die Auslieferung an die Kunden (Foto: Wigmar Bressel)

Mechanisches Säumen und Zusammenlegen der langen Stoffbahnen – hier: technisches Gewebe – für die Weiterverarbeitung, Konfektionieren und Vorbereiten für die Auslieferung an die Kunden

Manufakturen-Blog: In der Näherei (Foto: Wigmar Bressel)

In der Näherei

Manufakturen-Blog: Zuschnitt von Küchenhandtüchern für eine Kundin in einer Sonderfarbe (Foto: Wigmar Bressel)

Zuschnitt von Küchenhandtüchern für eine Kundin in einer Sonderfarbe

Dass das Problem bei Hoffmann überhaupt Wellen schlug, ist der Leipziger Initiative ‚Lokaltextil‘ zu verdanken. Diese ist derzeit sehr mit der Idee der Lausitzer Leinen-Fertigung und des regionalen Flachs-Wiederanbaus befasst. Als „Initiative zur Stärkung des textilen Bewusstseins“ veröffentlichte sie deshalb am 5. Juli 2022 einen Hilferuf im Internet und auf Instagram: „Bitte unterstützt die Leinenweberei Hoffmann!“. Im Text heißt es: „Leider gehen die jüngsten Schwierigkeiten unserer Zeit auch an der Leinenweberei Hoffmann nicht spurlos vorüber. Corona, Krieg und Beschaffungsprobleme setzen die Leinenweberei Hoffmann zunehmend unter Druck…  Das erfordert eine andere Lagerwirtschaft und Vorfinanzierungsmittel… Habt Ihr zukunftsorientierte Ideen für die Leinenweberei? Kennt Ihr Investoren, die nachhaltige lokale Wertschöpfungsketten fördern möchten?“

Der erste Investitionsbedarf – ein Mix aus Kaufpreis und ‚working capital‘ sowie echter Investitionen in die historische Produktion und Immobilienteile, Besucherparkplätze und einen würdigen als auch barrierefreien Werksverkauf, jedoch auch einen zeitgemäßen Online-Shop, Internetauftritt und Social-Media-Aktivitäten – wird sich auf geschätzte 1,5 Millionen Euro belaufen. Die Summe hört sich ersteinmal nach etwas an – aber man darf nicht vergessen, dass die Leinenweberei Hoffmann sowohl sächsisches als auch nationales Wirtschaftskulturgut ist; das gilt es zu erhalten und in die nächste Generation zu transformieren – sonst sind in Jahrhunderten erworbene Fähigkeiten und Kenntnisse für die deutsche Gesellschaft verloren. ‚Die Letzten ihrer Art‘ – es lohnt sich darüber nachzudenken, wie wir sie erhalten. Ruta sagt jedenfalls: „Ich werde jeden Investor unterstützen, der den Betrieb erhält und in die Zukunft führt.“

Insolvenzverwalter Dr. Ralf Goethner, der seit dem 4. August das Sagen hat, hat inzwischen Kaufinteressenten. Mal sehen, wen und welches Konzept er den Gläubigern und der Öffentlichkeit präsentiert.

Fotos: Wigmar Bressel

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Zum 275. Geburtstag der Porzellanmanufaktur Fürstenberg

30. August 2022, Fürstenberg/Weser. Die älteste norddeutsche Manufaktur feiert in diesem Jahr ihren 275. Geburtstag: die Porzellanmanufaktur Fürstenberg in Fürstenberg oberhalb der Weser bei Höxter. Einst im Jahr 1747 auf Betreiben von Karl dem Ersten, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, gegründet, um das Fürstentum zu modernisieren, ist die Manufaktur heute sowohl ein staatlich-niedersächsisches Kulturgut, als auch ein Name und eine feste Marke auf der ganzen Welt für herausragendes deutsches Manufaktur-Porzellan. Zu Besuch am Tag der offenen Tür.

Als weißer Solitär steht die Manufaktur-Anlage oben am Berghang: Über der Weser thronend das urige Schloss im Stil der Weserrenaissance, dazugehörend die später gebaute und immer erweiterte Manufaktur mit ihren schlichten Gewerbebauten, Schornsteinen, Shed-Dächern; dann das Dorf Fürstenberg, das erst über hunderte von Jahren den Support für das Jagdschloss der Braunschweiger Herzöge stellte, nahtlos anschließend von Heerscharen von Drehern, Formenbauern, Porzellanmalern, Bossierern, Vergoldern, Brennmeistern und Hüttenknechten bewohnt wurde – den Manufakturmitarbeitern, in der Spitze um die 500, heute um die Einhundert, verstreut und pendelnd bis zu einer Stunde je Fahrt. Fürstenberg bot zwei entscheidende Vorteile: der große Wald des Sollings als Brennmaterial – und der Porzellanbestandteil Kaolin im Abbau im benachbarten Neuhaus.

Karl der Erste war der große Modernisierer in seinem Teil des heutigen Niedersachsen: Er etablierte eine öffentliche Brandkasse (aus der die heutige ÖVB-Versicherung hervorging), gründete als ‚Collegium Carolinum‘ die spätere Technische Universität Braunschweig, beschäftigte Gotthold Ephraim Lessing als Hofbibliothekar, sanierte die Saline Schöningen – und gründete die Bank, die die Basis für die heutige NORD/LB bildete. Und eben Fürstenberg – unabhängig werden vom Import des begehrten „weißen Goldes“ aus Sachsen (Meissen), Berlin (KPM) und Übersee. Nach jahrelangen Selbstversuchen wurde entnervt ein Mitarbeiter der Höchster Porzellanmanufaktur abgeworben…

Zwei Weltkriege und der Absturz der deutschen Adelshäuser in die politische Bedeutungslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik ließen vergessen, dass Braunschweig einmal zu den europäischen ‚Big Playern‘ gehörte: Karls Vorfahren gründeten Bayerns heutige Hauptstadt München und waren mit der Schwester des englischen Königs Richard Löwenherz verheiratet, Karls Sohn Karl Wilhelm Ferdinand versuchte die Französische Revolution zu stoppen, drohte den Aufständischen in Paris mit „Artillerie-Bombardement“ (das ging gründlich schief – schlage nach unter: „Guillotine“), wurde Anführer der Alliierten europäischen Truppen gegen Napoleon (und im Jahr 1806 auf dem Schlachtfeld von Auerstedt tödlich verwundet),

Manufakturen-Blog: Die Schlossanlage in Fürstenberg - erst Jagdschloss, dann Manufaktur-Heimat (Foto: Martin Specht)

Die Schlossanlage in Fürstenberg – erst Jagdschloss, dann Manufaktur-Heimat (Foto: Martin Specht)

Manufakturen-Blog: "Verputzen" des Niedersachsenpferds - Wahrzeichen des Bundeslandes, oft Staatsgeschenk der Landesregierung (Foto: Wigmar Bressel)

„Verputzen“ des Niedersachsenpferds – Wahrzeichen des Bundeslandes, oft Staatsgeschenk der Landesregierung

Manufakturen-Blog: Von Fürstenberg gibt es Handmalerei und eingebrannte vorgedruckte Dekore (Foto: Wigmar Bressel)

Von Fürstenberg gibt es Handmalerei und eingebrannte vorgedruckte Dekore

Manufakturen-Blog: Der Zweckbau der Manufaktur aus den 1970er Jahren nach einem Brand im Schloss (Foto: Wigmar Bressel)

Der Zweckbau der Manufaktur aus den 1970er Jahren nach einem Brand im Schloss

eine weitere Nachfahrin wurde Königin von Griechenland und Mutter der spanischen Königin Sophia… Wenn man heute über das Bild von Niedersachsen nachdenkt, dann denkt man an Land- und Viehwirtschaft, vielleicht noch Kalibergbau – und Landschaft vom Harz über die Lüneburger Heide bis zur Nordsee; ‚Braunschweig‘ spielt trotz seiner Vergangenheit im Bewusstsein heute kaum eine Rolle.

Im Jahr 2017 wurde in den südwestlichen Vorposten des Landes von der Landesregierung kräftig investiert: Fünf Millionen Euro flossen in die Sanierung des Schlosses und des Museums. Der Betrieb ist sowieso auf dem technisch aktuellen Stand: Am Herdwagenofen werden die Gestelle mit den zu brennenden Halbfertigteilen teilautomatisch in den Brennraum gehoben, in Abkühlräumen können die „Scherben“ genannten Stücke individuell über bis zu sechs Wochen ihre Hitze abgeben, übersichtlich und klar ist jeder Arbeitsschritt (modellieren, verputzen, Glühbrand bei 980 Grad Celsius, lackieren oder bemalen oder dekorieren, abermaliges Brennen bei 1400 Grad Celsius).

Interessante Designer halfen, das Image aus der Zeit des Rokoko-Porzellans herumzureißen: Wilhelm Wagenfeld, Sieger-Design, EOOS, Alfredo Häberli, zuletzt Foster plus Partner. Und mit Sieger begann der Siegeszug der innenvergoldeten Champagner-Porzellanbecher, Solitäre, die unabhängig vom eigenen Geschirr zuhause, gesammelt werden – darauf Motive von Superhelden bis zum T-Rex. Die Sammeltasse von heute.

Trotzdem – auch Fürstenberg hat seinen täglichen Kampf zu kämpfen. „Fürstenberg? Liegt in der Mitte des größten deutschen Autobahnrings! In jede Richtung 60 Kilometer…“, witzelte Stephanie Saalfeld, die langjährige damalige Geschäftsführerin der Porzellanmanufaktur Fürstenberg, gerne. Und Dr. Christian Lechelt, seit dem Jahr 2016 Direktor des dazugehörigen Firmenmuseums im Schloss, antwortete am Sonntag auf die Frage „Wie geht’s?“ mit: „Das Weser-Bergland ist vielen Menschen unbekannt, das erlebe ich auf den Tourismus-Messen – da müssen wir alle hier uns noch kräftig anstrengen.“ Er meint damit die Schlösser und Sehenswürdigkeiten, die sich entlang des niedersächsisch-nordrheinwestfälisch-bremischen Grenzflusses aneinanderreihen; der dazugehörige Weser-Radwanderweg wurde zwar mehrfach zum Schönsten in Deutschland gewählt – aber die Infrastruktur ist mäßig: zu wenig Betten, schlichteste Gastronomie, kaum ergänzender Öffentlicher Nahverkehr. Lechelt sagt: „Das dreht sich im Kreis: Wegen fehlender Betten und Touristen zu wenig Gastro; wegen fehlender Gastro zu wenig Touristen. Wer baut dann für Betten? Wer macht den ersten Schritt?“ Bezeichnenderweise ist auch das schlosseigene Bistro ‚Carl‘ ohne Pächter.

Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte Fürstenberg 100 000 Besucher im Jahr – heute freute man sich über ein Drittel. Immerhin: Allein am Sonntag kamen trotz gesperrter Weserbrücke von und nach Höxter 3100 Gäste, also zehn Prozent eines guten Besucherjahres aufeinmal. War es Verbundenheit, Ausflug, Unterhaltung? Fast egal, für handgefertigtes deutsches Porzellan gilt: im Bewusstsein der Gesellschaft bleiben.

Fotos: Wigmar Bressel, Martin Specht (1)

 

 

 

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Vom inneren Wert der Keramik

2. Juni 2022, Leipzig. Wer Porzellan sagt – muss eigentlich auch Keramik sagen. Denn viel früher als die Porzellan-Bewegung in Europa mit der Erfindung des ‚Weißen Goldes‘ durch Johann Friedrich Böttger im 18. Jahrhundert, schon Jahrtausende vor der Gründung der berühmten europäischen Porzellanmanufakturen, hatten Menschen mit dem Brennen von Ton begonnen: Mit der Sesshaftwerdung des Menschen weitete sich der Bedarf an Aufbewahrung aus – und so gelten Tonscherben als das Zeugnis für menschliche Siedlung schlechthin. Und wie steht es heute um die Keramik? Ein Blick auf Instagram zeigt: So manche Keramikerin und so mancher Keramiker hat viel mehr Follower, als die berühmten Porzellanmanufakturen. Aber bildet das auch die Wirklichkeit ab? Verdient man mit Keramik Geld? Geht handwerkliche Keramik – in Deutschland? Ich treffe mich mit der bekannten Keramikmeisterin Franziska M. Köllner in Leipzig.

„Porzellan ist überhaupt nicht mein Material – das ist mir zu hart und zu kalt“, sagt Köllner. Und wenn man ihr so zuhört, dann versteht man sehr gut, was sie meint. Vielleicht ist Keramik in unserer Vorstellung femininer, als Porzellan. Die Techniken der Verarbeitung sind in etwa gleich – jedoch haben beide Materialien ihre eigene Favorisierung: Während die konfigurierte Porzellanmasse (Porzellan ist kein Naturprodukt) meistens in Formen gegossen wird, wird Keramik aus dem in Tongruben abgebauten Naturprodukt entweder in Ringen ‚aufgebaut‘ oder mit der berühmten Drehscheibe gedreht und geformt. Techniken, die sich einfach anhören und beim Zuschauen auch tatsächlich so einfach erscheinen – aber im Detail liegt, wie bei Allem, die Kunst; und so unterscheidet sich die Enthusiastin im Volkshochschul-Kurs doch sehr von der Berufskeramikerin. Und die herrliche Albernheit von Leslie Nielsen und Priscilla Presley an der Töpferscheibe im Filmklamauk ‚Nackte Kanone‘ bringt unter den Fingern der Fachleute filigranes und hauchdünnes Geschirr hervor, das sich in Ausführung und Form kaum von Porzellan unterscheidet – und vom Laien auch nicht unterschieden werden können.

Franziska M. Köllner hat ihre Ausbildung in der Endzeit der DDR gemacht. Im Jahr 1968 geboren, verweigerte sie den Gang auf die Russisch-Oberschule, absolvierte, wie die meisten Schüler in der DDR, die 10. Klasse an der POS („Polytechnische Oberschule“) – und wollte – inspiriert durch ihre vielen Ferienaufenthalte im Künstlerkollektiv Schaddelmühle im Muldental bei Grimma – Keramikerin werden. Das gelang ihr sehr prominent: Sie wurde nach Kontaktanbahnung durch einen befreundeten Leipziger Galeristen im Jahr 1984 von Ulli Wittich-Großkurth in Jena aufgenommen; eine Frau, die man als eine der Ikonen der DDR-Keramik beschreiben könnte. Und so waren die Auftraggeber der Werkstatt und Meisterausbildung auch oft der Staatsrat und der FDGB, dessen Boss Harry Tisch (1927 – 1995) ein besonderer Fan der Keramik aus Jena war. Besondere Aufträge und große Vorbilder machen junge Auszubildende groß.

Trotz Wendewirren fand die Meisterausbildung in Jena statt und endet im Jahr 1992 glücklich mit dem Abschluss – jedoch mitten im Desinteresse der Bewohner der Post-DDR: „Es gab damals vor allen Dingen Begeisterung für neue Fernseher und alles Technische – aber nicht für einheimische Keramik.“ Und auf einmal fehlte die Hochschul-Reife doch und der Keramikmeisterin der Zugang zu einem universitären zweiten Anlauf.

Also der mühsame Weg über die Töpfer- und Keramikmärkte, über Praktika und freie Aufenthalte an Kunsthochschulen, die Besuche von Workshops im In- und Ausland auf der ganzen Welt.

Das elterliche Wohnhaus im Leipziger Westen bot Platz für die Werkstatt, die Garage wurde zur Galerie.

Manufakturen-Blog: Die Auszubildende Franziska M. Köllner Ende der 1980er Jahre in Jena bei der Arbeit. (Foto: Wigmar Bressel)

Lehrling Franziska Ende der 1980er Jahre in Jena – ein Foto neben einer Tasse aus ihrer heutigen Produktion.

Manufakturen-Blog: Der Küchenfußboden im Elternhaus - hier entstand Franziska M. Köllners Leidenschaft für Keramik. (Foto: Wigmar Bressel)

Der Küchenfußboden aus Schaddelmühlener Keramik im Elternhaus verstärkte die Begeisterung für Keramik.

Manufakturen-Blog: Blick in den bis oben gefüllten zehneckigen Brennofen bei Franziska M. Köllner (Foto: Wigmar Bressel)

Blick in den bis oben gefüllten zehneckigen Brennofen

Manufakturen-Blog: Mate-Kalebassen beim Trocknen (Foto: Wigmar Bressel)

Mate-Kalebassen beim Trocknen

Manufakturen-Blog: Im Atelier-Verkauf bei Franziska M. Köllner in Leipzig mit Keramik-Geschirr im 'Vietnam-Köllner'-Grün - im Hintergrund ein Foto, das ihre Tochter von ihr gemacht hat. (Foto: Wigmar Bressel)

Im Atelier-Verkauf mit Geschirr im typischen Köllner-Grün – im Hintergrund ein Foto, das ihre Tochter Nina Emilia von ihr gemacht hat.

Wie es bisweilen so ist mit Garagen – es kamen immer neue Ideen: Eine Galerie für Keramik und anderes Kunsthandwerk musste her – also wurde die ‚Schwarz Weiß Werkstatt Galerie‘ in der ehemaligen Baumwollspinnerei mitbegründet. Noch besser wäre gleich ein Kunstverein: der ‚terra rossa e. V.‘ wurde ins Leben gerufen. Warum muss man für Keramikmärkte so weit reisen? Köllner entwickelte die Idee für den Keramikmarkt am Museumskomplex Grassi. Wie kommt man in den Handel? Na, noch direkter sind doch Pop-up-Stores, die sich nach der Phase des Experimentierens einfach dauerhaft etablieren, wie der in der berühmten Mädler-Passage.

Da kam vor einigen Jahren dieser Vietnamese in die Schwarz Weiß Werkstatt Galerie. Unentschlossen dreinschauend, offensichtlich kritisch, etwas suchend, die Tassen drehend und wendend. Auf die Frage, wie sie helfen könne, antwortete er: „Ich suche Teeschalen für mein Restaurant in einer ganz bestimmten Form. Wie ich sie von früher aus Vietnam kenne.“

In Leipzigs Westen wurde die Drehscheibe angeworfen, entworfen, gedreht, versucht, verworfen. „Mir fehlte noch das Bild, was er genau wollte“, räumt Franziska M. Köllner achselzuckend ein. Irgendwann war es so, wie es der Kunde sich vorstellte. Weitere asiatische Auftraggeber erschienen. Folgeaufträge schlossen sich an – Blumenvasen entstanden im Raku-Brand, Schalen für die Pho-Suppe entworfen, Stäbchen-Behälter kreiert. Asien ließ die Leipzigerin nicht mehr los. Sie bereiste Vietnam und Thailand – auf der Suche nach mehr Verständnis für die andere Keramik-Kultur.

In verschiedenen Werkstätten erbat sich Köllner einen Zugang zum Arbeitsplatz, begann sich vor Ort in das Teetrinken modellierend und formend hineinzuarbeiten, gewöhnte sich an die Drehscheiben, die andersherum, als die deutschen, drehen – irgendwann stand das Bild auch in ihrem Kopf, wie Tee „perfekt“ getrunken werden könnte.

Wer Tee sagt, sagt vielleicht auch Mate-Tee. Das Naturprodukt aus Südamerika nimmt seit Jahren auch in Europa einen Aufschwung. Glück für Köllner, dass das aufstrebende Unternehmen Caámate – Spezialist für Tee und Zubehör – in Laufentfernung zur Werkstatt seinen Sitz hat. Und dass Mate-Tee aus speziellen Keramikgefäßen – sogenannten ‚Kalebassen‘ – getrunken wird.

Seitdem sind viele Tausend Mate-Tee-Kalebassen, Kännchen und Schalen aus der Leipziger Werkstatt in den Tee-Accessoire-Handel gegangen. Losgrößen von zweihundert und fünfhundert sind an der Tagesordnung, es könnte von ihr noch viel mehr produziert werden, sagt sie – qualifizierte und engagierte Mitarbeiter wären gefragt, sind jedoch Mangelware, wie überall.

Nach meinem Besuch denke ich: Um das Interesse an Keramik steht es doch besser, als ich zuvor dachte – aber sie steht unter denselben Problemen, wie alle anderen Handwerksprofessionen auch; theoretisch „goldener Boden“ – praktisch sind zu wenige Menschen bereit, die sorgfältige Arbeit zu machen. Die sich in die alte Tradition der Bandkeramiker stellen wollen, die schon vor 9000 Jahren in unseren Breiten töpferten und ihre Waren verzierten – sprich: in den Dienst unserer Kultur. Die verstehen, wie man Design unter den Gegebenheiten des Materials umsetzen kann. Die bereit sind, zu erlernen, wie man Ton und Keramik zum Sprechen bringt – sie eine Geschichte erzählen lässt, sie als Produkt das unterstützen lässt, was auf und in ihnen präsentiert wird. Umso wichtiger ist für uns Kunden zu lernen, den inneren Wert und Anspruch der seltenen Schönheiten zu erkennen und zu verstehen – dort, wo wir ihnen begegnen.

Fotos: Wigmar Bressel

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Ein Besuch im Independent-Porzellan – ein Besuch bei Claudia Schoemig

18. Februar 2022, Berlin. Okay. Ich habe die wundervollen Arbeiten von Claudia Schoemig schon länger auf Instagram beobachtet. Ich will nicht sagen, dass ich ihre Arbeiten gestalkt habe – aber doch ihren Instagram-Kanal abonniert. Das besondere ihres Gebrauchsporzellans ist der Mix aus Biskuit und Glasur in sehr feinen Harmonien. Ich war zu Besuch auf der ‚Ambiente 2020‘ in Frankfurt am Main (der letzten vor dem wiederholten Aus durch die Pandemie) – und da wurde sie als eine Art ‚Nachwuchskünstlerin‘ protegiert, was natürlich komplett absurd ist, denn die Fränkin in Berlin ist seit einigen Jahren einer der strahlenden Sterne am Independent-Porzellanhimmel. Ich habe sie an ihrem Stand besucht – und beschlossen, dass ich sie aus Sympathie für ihre überlegte Art und Begeisterung für das schöne handgedrehte Serien-Geschirr in ihrer Werkstatt mit Showroom im Prenzlauer Berg aufsuchen muss. Das habe ich dann auch ein Jahr später getan, gerade von der KPM, dem Berliner Platzhirschen für Manufaktur-Porzellan, kommend.

Der berühmte In-Stadtteil im Berliner Osten ist ja ein Ort der Lieblichkeit, des Bio-Kitschs mit seinen Läden für Fallobst-Wiesen-Säften, der durchgentrifizierten Altbaulandschaft, die einst mit Mühe die DDR überstanden hat und heute teilweise teuer wie Nichts ist; berühmt für die sogenannten „Latte-macchiato-Mütter“, die ihr Heißgetränk im wiederverwendbaren „To-go-Becher“ zu sich nehmen, während der Nachwuchs im 500-Euro-Kinderwagen geschaukelt wird. Ist ja auch egal – denn der „Prenzelberg“ ist eine Besonderheit, wie Notting Hill in London oder andere hippe Stadtteile in den Größtstädten unserer Welt. Eigentlich ein Ideal-Stadtteil – wäre da nicht das Problem, dass sich erhebliche Teile der Bevölkerung Bürgerbauten des 19. Jahrhunderts mit Deckenhöhen und Parkett nach der Renovierung kaum mehr leisten können und sich theoretische republikanische Gleichheit nach und nach durch die Macht des Faktischen in Soll und Haben sortiert.

Manufakturen-Blog: Becher-Serie 'Sublim' von Schoemig-Porzellan (Foto: Wigmar Bressel)

Becher-Serie Sublim

Manufakturen-Blog: Becher-Rohlinge warten im Regal auf den zweiten Brand (Foto: Wigmar Bressel)

Becher-Rohlinge warten im Regal auf den zweiten Brand

Manufakturen-Blog: Regale mit Halbfertigteilen betonen den Werkstatt-Charakter (Foto: Wigmar Bressel)

Regale mit Halbfertigteilen betonen den Werkstatt-Charakter

Manufakturen-Blog: Claudia Schoemigs Hündin Martha wacht über den Showroom (Foto: Wigmar Bressel)

Claudia Schoemigs Hündin Matilda wacht über den Showroom

Aber so funktioniert selbst die „soziale Marktwirtschaft“ eben. Aufwendige historische Gebäude benötigen zahlungsfähige Eigentümerinnen und Eigentümer und diese ebensolche Mieterinnen und Mieter. Und wo wollte man sich mit handwerklichem Designer-Porzellan auch ansiedeln, wenn nicht bei den Menschen, die studiert oder anderweitig auch für das Ästhetische gebildet – aber vor allem auch etwas zahlungskräftiger für Individualität und Design sind?

Claudia Schoemig hat sich im Jahr 1999 in diesem Stadtteil verortet; sie macht übrigens keinen reichen Eindruck. Sondern einen sehr durch handwerkliche Arbeitsamkeit und Ernsthaftigkeit und Zielgerichtetheit bestimmten. Ihr schlichter Showroom in der Raumerstraße 35 wird mitbelegt durch Teil-Fertigprodukte, die auf ihren Brand warten. Ruhige Farben bilden den Hintergrund für die Präsentationsbühnen ihrer Porzellane: Teller, Becher, Schalen, Vasen – was es für den Gebrauch bei Tisch eben so bedarf.

„Ich habe das Glück, dass ich einen tollen Vater habe, der gefühlt alles kann und der sich soviel zugetraut hat. Der hat natürlich eine Weile gebraucht, bis er kapiert hat, dass er eine Tochter hat, die sich auch für alles interessiert“, erzählt Claudia Schoemig. Ihr Werdegang ist dementsprechend zunächst unakademisch: Ausbildung zur Keramikerin in einer fränkischen Werkstatt – „die Leute haben mich angeguckt, als wäre ich ein Ufo, wenn ich erzählt habe, was ich mache. Ob das nicht ein ‚aussterbender Beruf sei‘, wurde ich oft gefragt. Und ich habe gedacht: Na, schauen wir mal, wie lange es dauert, bis er ausgestorben ist.“ Das war in den 1980er Jahren. Die 1990er seien dann auch tatsächlich „übel gewesen“, räumt Schoemig ein. „Aber seit zehn Jahren ist handwerkliche Keramik und Porzellan wieder voll am Aufblühen. Gefühlt jeder würde gerne einen Töpferkurs machen und das Gefühl für die handgemachten Dinge kehrt in die Gesellschaft zurück.“

Claudia Schoemig entwickelte sich weiter – vom Ton der Keramikerin hin zum Porzellan, weg von dem, was in der Erde gefunden wird und abgebaut (Ton), hin zum Porzellan, das aus frei konfigurierbaren Stoffen besteht, Hauptbestandteil Kaolin, befreit von den vielen Bestandteilen wie Eisen (das den Ton rötlich färbt), das dafür jedoch viel präziser gehandhabt werden kann, da es keine Überraschungen mehr bereithält.

Dieser Schritt erfolgte bei ihrem nächsten Arbeitgeber – einer kleinen Porzellanmanufaktur, die vor allem für Historienfeste und Filme historische Porzellane fertigte: „Ich wurde immer schneller im Drehen von Porzellanteilen – bis ich die Schnellste war.“

Dann kam ihr Schritt in die Selbständigkeit – und wieder der Vater: „Ich durfte mir eine kleine Werkstatt in seiner Arbeitshalle einrichten; das war eine schöne Zeit!“ Sie zog über Keramikmärkte, übte sich in Direktverkauf und Kundennähe: „Aber ich kriegte die Krise, fragte mich, ob ich mit Anfang zwanzig schon bereit sei, so sesshaft zu werden.“

Natürlich nicht. Es folgte ein Kunststudium im nordhessischen Kassel, zwischendurch an der Hochschule in Berlin-Weißensee, schließlich in Kassel der Abschluss. Ausstellungsteilnahmen, Kunstvereine, selbstorganisierte Künstleraustausche mit Helsinki, Paris, Prag und London – alles prägend für die Frage nach Kunst- oder Gebrauchsporzellan, nach Design oder Funktionalität, nach Positionierung und Preisfindung… vieles pro bono und Ehrenamt – aber das gehört zur Entwicklung als Mensch ja dazu. Und immer wieder die Frage: Was will ich in meinem Leben als Porzellanschaffende wirklich machen?

„Ich habe immer noch soviele Ideen – das kann ich alles gar nicht machen.“ Gibt es für sie garkein Problem, sich selbst zu motivieren? „Ich habe nur das Problem, dass ich nicht alles umsetzen kann, über das ich nachdenke. Dafür fehlt die Zeit. Aber ich habe gemerkt, dass meine Entwürfe und Umsetzungen gut ankommen – also habe ich meine eigene Firma gegründet.“ So entstand die Idee für ‚Schoemig Porzellan‘, an ihrem letzten Studienort, in der Hauptstadt, in der schon Friedrich der Große Porzellan unter dem Namen KPM produzieren ließ. ‚Ö‘ oder ‚oe‘ – sie zuckt mit den Schultern: „Die internationalen Kunden verstehen es nicht.“ Aha – internationale Kunden… das ‚oe‘ schlich sich jedenfalls ein – und aus dem fränkischen Schömig wurde Schoemig.

Wie entwickelt sich bei der heutigen Claudia Schoemig Design? „Das ist sehr unterschiedlich. Vieles entsteht im Prozess, beim Arbeiten; ich frage mich: Wie soll sich ein Gefäß anfühlen? Wie will ich es selbst gerne in der Hand halten? Wie soll es aussehen, wenn ich hineinschaue? Was für mich meine Arbeit ausmacht, ist eher die Richtung Minimalismus, zeitgenössisch-poetisches Tafeln und modernes Interior. “

Ich weiß genau, was sie meint, ich liebe ihre Becher: außen Biskuit-Porzellan, innen in zarten Pastelltönen glasiert. „Ich feile so lange daran herum, bis es gut ist und mir gefällt. Dann kommt der Test mit der Kaffeemaschine, der Probeeinsatz bei den Mitarbeitern und im Bekanntenkreis. Und ob ich es nach einem Monat immer noch gutfinde. Man braucht mir beim Briefing nur einen Brocken hinwerfen – das macht mich glücklich, wenn ich wochenlang daran herumarbeiten darf. Neue Sachen auszudenken – das ist mein Lebenselixier.“

Fotos: Wigmar Bressel

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Die Messer-Manufaktur Böker: Von der Kastanie zum Rasiermesser

7. Mai 2021, Solingen. Die Geschichte der heutigen Schneidwarenmanufaktur Böker ist eng verbunden mit einer Kastanie, die irgendwann im 17. Jahrhundert auf dem Gelände einer Remscheider Werkzeugschmiede gestanden haben muss. Jedenfalls ließ sich die Familie Böker im Jahr 1674 ein Wappen mit dem Baum und einem darunter fließenden Fluss als Hausmarke für die von ihr hergestellten Werkzeuge eintragen. Im Sommer 2020 fällt mein Blick auf die stilisierte Kastanie im Firmenlogo der Heinrich Böker Baumwerk GmbH, während ich vom Parkplatz zum modernen Firmengebäude in Solingen gehe. Mit mehreren Metern Durchmesser prangt die Darstellung an der Außenfassade.

Darunter steht eine Handvoll Menschen mit Gesichtsmasken vor dem Eingang zum Werksverkauf. Wegen der Coronakrise darf nur jeweils eine begrenzte Zahl ins Innere. Die potenziellen Kunden fassen sich darum in Geduld und freuen sich über das schöne Wetter. Im Hintergrund befindet sich ein altes Backsteingebäude, hier wurde im Jahr 2019 anlässlich des 150jährigen Bestehens der Schneidwarenmanufaktur Böker ein kleines Museum eingerichtet.

Bei meinem Besuch scheint eine hochsommerliche Nachmittagssonne auf das nun wieder leere – aber immer noch historische – Bauwerk. Ebenso wie die Architektur der Firmengebäude hat sich das Logo mit dem Baum im Laufe der Jahrhunderte verändert, – und auch der Standort der Manufaktur hat sich von Remscheid nach Solingen verlagert. Doch um der Symbolik des Baumes gerecht zu werden: Die Verwurzelung in der Region und die damit verbundene Tradition der Schneidwarenherstellung ist geblieben. Allerdings unterlag sie einer Art Evolution, denn wenn die Wurzeln der Bökerschen Manufaktur auch nach wie vor im Bergischen Land liegen, so erstrecken sich deren Zweige doch mittlerweile auf gleich mehrere Kontinente.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verließen die Brüder Hermann und Robert Böker Deutschland. Hermann Böker gründete ein Unternehmen in den USA, Robert Böker zuerst in Kanada und später in Mexiko. Beide taten dies unter dem Namen Böker – beziehungsweise Boker in den USA – und behielten den Baum als Kennzeichen ihrer Produkte. Ein Cousin der beiden, Heinrich Böker, siedelte sich mit seiner Schneidwaren-Manufaktur im Jahr 1869 in Solingen an. Auch er blieb dem Familiennamen Böker und dem Baum-Logo treu.

„Unser Kundenkreis ist global“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow, Geschäftsführerin der Heinrich Böker Baumwerk GmbH. „Heute sind wir weltweit vertreten und können ja auch auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. Die Böker-Familie war schon immer sehr international und Familienmitglieder sind nach Nord-und Südamerika ausgewandert. Dadurch ist schon sehr früh ein internationales Netzwerk entstanden und der Bekanntheitsgrad der Marke ist dadurch in diesen Ländern vorhanden.“

Kirsten Schulz-Dalichow leitet das Unternehmen gemeinsam mit ihrem Bruder Carsten Felix-Dalichow, deren Vater hatte das Unternehmen von der Familie Böker übernommen. Kirsten Schulz-Dalichow ist seit 2003 für die Produktion verantwortlich, ihr Bruder für den kaufmännischen Bereich. Böker hat am Standort Solingen etwa 100 Beschäftigte, unterhält aber auch in den USA eine Niederlassung mit etwa 20 Angestellten, die mit der Distribution der Produkte auf dem nordamerikanischen Markt betraut sind, und betreibt in Argentinien eine Tochterfirma, die hauptsächlich Jagd- und Outdoor-Messer der Marke Arbolito – übersetzt Bäumchen – fertigt. Außerdem vertreibt Böker Schneidwaren und Messer einer ganzen Reihe von Firmen auf dem europäischen Markt. Aktuell gehören etwa 6.000 unterschiedliche Produkte zum Sortiment.

„Kann man bei dieser Unternehmensgröße und Struktur eigentlich noch von einer Manufaktur sprechen?“ frage ich Kirsten Schulz-Dalichow. „Wir leben den Manufaktur-Gedanken absolut“, antwortet sie. „Das ist unsere Philosophie, das ist unser Anspruch, – das ist aber auch das, was der Kunde wünscht. Man sieht es an unseren Produkten. Es ist alles andere als eine Massenproduktion, eine Fabrik oder eine Automation. Bei uns gibt es keine Roboter. Wir begrenzen ja auch unsere Stückzahlen sehr stark. Weil wir viele Sammler als Kunden haben, limitieren wir die Auflagen unserer Produkte.“ Tatsächlich fertigt Böker diverse Messer, die – obwohl zum Gebrauch geeignet – als Sammlerstücke einen hohen Wert haben, darunter solche, deren Klingen aus Damast und historischen Stählen bestehen.  Die Messer der Marke „Böker Manufaktur Solingen“ werden komplett in Handarbeit in der Manufaktur gefertigt, der Fertigungsprozess folgt der mehr als 150jährigen Tradition.

Hat sich für Kirsten Schulz-Dalichow etwas am Verständnis des Begriffes Manufaktur in einer globalisierten Welt verändert? „Ja, schon“, sagt sie. „Wir vermitteln den Manufaktur-Gedanken heute nach außen und führen ihn auch im Firmennamen. Das ist etwas, das sich in den zurückliegenden 20 Jahren verändert hat. Die Produktion ist die gleiche geblieben, aber es hat sich insofern verändert, dass wir es auch zeigen. Deswegen laden wir unsere Kunden regelmäßig zu uns ein. Einmal im Monat findet eine Führung statt. Danach sehen die Kunden die Messer mit anderen Augen und verstehen die Preise besser, wenn sie sehen was dahintersteckt und durch wie viele Hände so ein Messer während der Fertigung läuft.“

Und welche Faktoren könnten in Zukunft den Begriff „Manufaktur“ beeinflussen? „Wir merken heute schon, dass das Thema Nachhaltigkeit mehr Gewicht bekommt“, so Kirsten Schulz-Dalichow. „Das greifen wir natürlich gerne auf. Damit eben keine Wegwerfkultur entsteht und die entsprechenden Materialien verwendet werden. Auch was die Verpackung betrifft.“

Das Thema Nachhaltigkeit bringt uns zu dem – meiner Ansicht nach – spannendsten Produkt im Sortiment Bökers: dem Rasiermesser. Der Gebrauch eines handgefertigten Rasiermessers mit quasi unbegrenzter Lebensdauer entspricht selbstverständlich eher der Idee der Nachhaltigkeit, als der eines Einwegrasierapparates aus Kunststoff oder eines Elektrogerätes. Doch die Herstellung eines Rasiermessers ist mit das Aufwendigste, das es in der Schneidwarenherstellung gibt. Der Schliff der Klinge gilt unter Experten als extrem schwierig und die Fähigkeit der Solinger Messerschleifer, diese Klingen in exzellenter Qualität schleifen zu können, hat im 19.Jahrhundert wesentlich zum Aufstieg und dem Weltruf Solingens beigetragen.

Manufakturen-Blog: Das historische, riesige Werk von Böker in Solingen im Jahr 1914 (Foto: Böker)

Das historische, riesige Werk von Böker in Solingen im Jahr 1914

Manufakturen-Blog: Kirsten Schulz-Dalichow und Carsten Felix-Dalichow haben die Messerschmiede Böker von ihren Eltern übernommen und führen sie gemeinsam (Foto: Böker)

Kirsten Schulz-Dalichow und Carsten Felix-Dalichow haben die Messerschmiede Böker von ihren Eltern übernommen und führen sie gemeinsam

Manufakturen-Blog: Beim Ätzen erhält die Rasierklinge ihre Aufschrift (Foto: Martin Specht)

Beim Ätzen erhält die Rasierklinge ihre Aufschrift

Manufakturen-Blog: Die Hohlklinge eines Rasiermessers muss hart und elastisch zugleich sein - Test am Daumenangel (Foto: Martin Specht)

Die Hohlklinge eines Rasiermessers muss hart und elastisch zugleich sein – Test am Daumenangel

Die Klinge eines Rasiermessers muss zum Einen extrem scharf – also dünn –  sein, gleichzeitig aber auch biegsam, damit sie sich der Hautoberfläche anpasst. Wäre sie nur dünn, wäre die Klinge instabil und ließe sich nicht führen. Die erforderliche Stabilität wird mittels des sogenannten Hohlschliffs erzielt. Der Rücken der Klinge bleibt in einer gewissen Breite erhalten, während diese zur Schneide hin hohl ausgeschliffen wird. Zumindest wenn man es einfach ausdrückt. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten des Hohlschliffs: derb, halbhohl, dreiviertelhohl, vollhohl und extrahohl. Mit Ausnahme der derben Schleifvariante wird die Klinge so geschliffen, das zwei aneinander liegende Hohlungen entstehen, die durch einen leicht erhabenen Wall, der horizontal über die Länge der Klinge verläuft, voneinander getrennt sind. All dies muss zwingend von Hand gemacht werden, – und zwar von einer Hand, die weiß was sie tut und über die notwendige Erfahrung verfügt.

„Böker war schon vor 100 Jahren für Rasiermesser sehr guter Qualität bekannt“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow, betont aber auch: „Das Schleifen von Rasiermesserklingen kann längst nicht jeder. Man braucht sehr, sehr viel Erfahrung bis man das tatsächlich so beherrscht, dass wir auch damit zufrieden sind.“ Da nach dem Zweiten Weltkrieg die Produktion von Rasiermessern in ganz Europa mit dem Aufkommen von Einwegrasierklingen zunehmend reduziert, und in vielen Betrieben schließlich ganz eingestellt wurde, ließen sich im Zuge der Renaissance klassischer Rasiermesser jedoch nicht so ohne weiteres Messerschleifer finden, die noch über das erforderliche Wissen verfügten. Kirsten Schulz-Dalichow berichtet von der Wiederaufnahme der Produktion: „Wir haben vor zehn Jahren wieder mit der Rasiermesser-Produktion angefangen. Nach dem Krieg – nachdem Wilkinson und Gilette auf den Markt gekommen sind – hat Böker keine Rasiermesser mehr gefertigt. Das war nach dieser Entwicklung erstmal uninteressant. Doch vor etwa zehn Jahren sind wir immer wieder darauf angesprochen worden. Es gab also noch Kunden, und da haben wir uns überlegt, dass wir in diesen Markt rein müssten. Wir haben dann tatsächlich bei Null angefangen, da wir nichts mehr hatten, auf das wir zurückgreifen konnten. Wir haben eine alte Schleifmaschine speziell für den Hohlschliff bei der Rasiermesserklingen-Fertigung im Industriemuseum gekauft und aufbereitet. Wir hatten auch das Glück, dass in Solingen das entsprechende Knowhow noch immer vorhanden ist. Es gibt alte Schleifer, die dieses Wissen noch besitzen und die haben dann unsere jungen Beschäftigten ausgebildet.“

Diese neue Generation von Messerschleifern ist hochmotiviert und froh, einen Zugang zu den Fähigkeiten zu haben, die den Ruf Solingens einst begründeten. Dass sie auch selbst diesem Ruf gerecht werden, zeigt, dass im Jahr 2018 der beste Ausbildungsabsolvent im Bereich ‚Fachbereich Metalltechnik-Fachbereich Zerspanungstechnik‘ aus dem Hause Böker stammte. In einfachen Worten: Es handelt sich um Deutschlands besten Handschleifer. Heute bereitet sich der junge Mann in der Schneidwarenmanufaktur Böker auf seine Meisterprüfung vor.

„Auch unsere anderen Mitarbeiter sind Weltklasse“, so die Geschäftsführerin. „Mehr als zwei Drittel unserer Mitarbeiter sind auch von uns ausgebildet worden. Wir verstehen uns als Familie.“

Anders als in vielen anderen Bereichen des Handwerks, hat die Manufaktur kein Problem damit, ausbildungswilligen und ausreichend motivierten Nachwuchs zu finden. „Viele junge Leute, die das Messer-Virus in sich tragen, die ziehen nach Solingen, um sich von uns ausbilden zu lassen“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow.

Doch zurück zum Rasiermesser: „Wir haben neues Wissen mit dem alten Wissen verbunden und so die Fähigkeiten und Voraussetzungen für die Rasiermesserproduktion geschaffen. Die wächst von Jahr zu Jahr, und wir könnten sogar mehr verkaufen, wenn wir mehr produzieren würden.“

Ein boomender Markt also – und das mit einem, im Grunde genommen historischen Werkzeug, das bei richtiger Pflege Generationen überdauern kann. Wie lässt sich dies unter einen Hut bringen? Marketingleiter Thomas Wurth bemerkt dazu: „Die Wettbewerbsintensität ist in der Rasiermesserherstellung nicht gegeben, weil die Fertigung so anspruchsvoll ist. Es gibt weltweit nur eine Handvoll Unternehmen, die diese geschmiedeten Rasiermesser überhaupt produzieren können. Zumindest in guter Qualität. In den letzten Jahren hat die Nachfrage unsere Produktionskapazitäten deutlich überschritten.“ Um diese Nachfrage auch weiterhin am Leben zu erhalten, setzt die Manufaktur auf eine Strategie der Verschmelzung von Tradition und Moderne. Zum Einen finden sich in den Archiven von Böker noch die historischen Designs der seinerzeit gefertigten Rasiermesser, auf die in der Ideenfindung zurückgegriffen werden kann, zum Anderen werden aber auch bewusst spektakuläre Innovationen auf den Markt gebracht. Man möchte mit den Rasiermessern am Puls der Zeit bleiben. „Barbershops sprießen wie Pilze aus dem Boden“, sagt Thomas Wurth. „Jedes Jahr haben wir haben wir zwei Kooperationen mit Barbieren, mit denen wir gemeinsam Messer entwickeln. Die sind limitiert auf jeweils 99 Stück. Das kommt super an!“  Außerdem, so der Marketingleiter: „Das Thema klassische Nassrasur erlebt auch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit einen Boom.“

Der Bogen führt von der Tradition über die Nachhaltigkeit zu den Erfordernissen marktspezifischer Innovation und einer Gestaltung, die auch moderne Menschen anzusprechen vermag. Beim Rasiermesser, dessen Form im Wesentlichen durch Funktion und Handhabung vorgegeben ist, sind spannende Innovationen nicht unbedingt einfach zu erfinden. Bei den modernen Designs arbeitet Böker darum mit außergewöhnlichen Griffmaterialien, wie zum Beispiel Abalone oder Carbon. Die Rasiermesserklingen werden mit aufwendigen Ätzungen oder Gravuren versehen, einige sind aus Damast gefertigt. Hohe Handwerkskunst also. Um dies auch in Zusammenhang mit der Konzeption einer modernen Schneidwarenmanufaktur zu setzen, hat Böker eigens ein Rasiermesser „Manufaktur“ kreiert. Auf dem Griff, dessen Material dem historischen Schildpatt nachempfunden ist, ist der Schriftzug „Manufaktur“ in Neusilber intarsiert. „Wir wollten damit zeigen, dass die Rasiermesserfertigung bei uns sehr authentisch ist“, sagt Kirsten Schulz-Dalichow. „Jede Klinge wird von Anfang bis Ende von Hand geschliffen. Wie auch vor 100 Jahren. Darauf wollten wir noch einmal mit dem Produkt, das die Bezeichnung ’Manufaktur’ trägt, aufmerksam machen.“ Interessant, dass nach mehr als 150jähriger Tradition eines der ältesten –  in der Herstellung mit am Aufwendigsten – Erzeugnisse der Manufaktur heute wieder hochaktuell ist.

Fotos: Martin Specht, Böker

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